TiefSinniges

Mittwoch, 8. März 2006

Sabine

Laß uns 'n Wunder sein,
'n wunderbares Wunder sein.
Nicht nur du und ich allein,
könnte das nicht wunderbar sein?

(Ton Steine Scherben: Laß uns 'n Wunder sein)

Sabine lebt in Jahnishausen & ist für mich ein grossartiges Wunder. Obwohl ich ja drei Monate dort war, kamen wir uns erst in den letzten paar Wochen näher, & den Weg in ihr Bett fand ich erst am Samstag vor meiner Abreise.

Die Begeisterung für die Sudbury-Schule war die erste Gemeinsamkeit, die wir entdeckten. Damit war unser Interesse aneinander geweckt.
Das "wir" ist in diesem Fall gerechtfertigt, Sabine hat es auch so erlebt.

Vom besagten Samstag Abend bis zum darauf folgenden Dienstag Morgen verdichtete sich die Zeit, um mich eine tiefe Nähe erleben zu lassen, wie ich sie mir nicht im Traum hätte ausmalen können. Was ich in The best things in life geschrieben hatte:
Am wichtigsten ist mir dabei die Intimität. Körperlich & seelisch nackt sich selbst & einem anderen Menschen begegnen. ist erfüllt worden. Keine 24 Stunden nachdem ich es hier aufgeschrieben hatte.

Wir haben etwas Wunderbares entdeckt: Zusammen atmen. Völlig synchron. Das ergab sich einfach von selbst. Es fühlt sich soooooooo vertraut & geborgen an.
Geht übrigens problemlos auch per Telefon. ^^

Sicherlich gäbe es noch ganz viel zu schreiben, doch ich will die Worte nicht zwingen. Was ich da erlebe, ist so grossartig, dass es Zeit braucht um zu Worten zu wachsen.
Schweigend, ohne gesprochene oder geschriebene Worte, ja sogar ohne Gedanken kannst Du dem Atem lauschen & den Zauber intimer Nähe erspüren.

Das erste Mal in meinem Leben kann ich mit geöffnetem Herzen einem Menschen sagen "Ich liebe Dich". Das ist wirklich alles andere als eine Floskel. Dieser Satz ist für ganz besondere Menschen vorbehalten.

Sabine, ich liebe Dich!

Samstag, 4. März 2006

The best things in life

Schon vor Monaten habe ich hier unter der Überschrift Die Macht von Glaubenssätzen über meinen tiefsitzenden Glaubenssatz geschrieben, den die Band Filter vertont hat:

You know the best things in life aren't for me
You know the best things in life aren't for free


Jetzt hab ich mir bei eBay das Album gekauft, wo das Lied drauf ist, & seit inzwischen vielleicht einer Stunde läuft das Lied auf Repeat.
Ich hab schon mehrere Durchläufe in verschiedene Richtungen hinter mir. Zuerst stopfte ich wie üblich Essen in mich rein - eine 300 Gramm-Tafel Milka Schoko & Keks.
Dann stieg eine unbändige Wut in mir hoch, ich wollte nur noch rumschreien, irgendwen oder irgendwas schlagen, konkret den Stuhl gegen die Wand schmettern.
Ganz bewusst hielt ich mich zurück & tat nichts dergleichen.

Schliesslich fielen mir Berge von Schuppen von den Augen. Zwar war über weite Strecken meines Lebens mein heimliches Motto "Durchhalten & Verzichten", doch dieses Durchhalten bezog sich immer auf selbst gewählte Durststrecken. Sowas wie die Aktion, als ich barfuss von der Sparrenburg bis zum Hermannsdenkmal wanderte. Mir selbst zeigen, was ich alles aushalten kann.
Dabei bin ich ganz oft feige davon gelaufen, wenn Gefühle in mir aufstiegen. Die wollte ich dann nicht aushalten. Die traute ich mich nicht zuzulassen.
Das tue ich, während "The best things" auf Repeat läuft. Nicht darin flüchten, dass ich etwas in mich reinstopfe, nicht in aktionistisches Äussern meiner Gefühle flüchten. Denn wenn ich das was ich fühle äussere ist es ausserhalb von mir & nicht mehr in mir. Auch eine bequeme Art, nichts in mir zu fühlen.

Es fühlte sich auf eine ungewöhnliche Art gut an, nicht auszuweichen. Einfach stehen bleiben & nichts tun ausser fühlen was da ist.
Das ist wahrer Mut, echtes Vertrauen.

Übrigens ekele ich mich erstmals vor dem vielen Essen, das ich einfach so ohne Sinn & Verstand wegdrücke. Spüre dass 300 Gramm Schokolade auf einmal schlicht Gift für mich sind. Das was ich noch an heimlichen Vorräten in der Schublade liegen habe, will ich auf gar keinen Fall noch hinterherstopfen. Auch wenn ich das problemlos könnte, das weiss ich ja nur zu gut.

Mir ist heute Nacht wieder deutlich bewusst geworden, dass ich morgen tot sein kann (siehe auch Fight Club & Don Juan Matus). Deshalb will ich heute noch wissen, wer dieser Dämon in mir ist, der ständig gefüttert werden will & sich sprachlich in diesem Glaubenssatz manifestiert, & was dieser Dämon will. Mindestens das will ich noch wissen bevor ich sterbe.

Zwar kenne ich die Antwort in diesem Moment noch nicht, doch habe ich durch meinen Willen, mit dem Dämon so lange zu ringen bis er sich zu erkennen gibt, schon mal erfahren, dass ich stark genug bin auszuhalten was bisher an Gefühlen aufstieg.

Eine Ergänzung zu meinem Kraftsatz seit über 4 Monaten ist der Satz
Ich muss mich nicht schützen.
Steckt übrigens ebenfalls seit ein paar Wochen in meinem Portemonnaie.

Der Glaubenssatz ist hauptsächlich dafür verantwortlich, dass ich kaum dankbar sein kann. In seiner Wirkung ist er übrigens perfekt für unser kapitalistisches Wirtschaftssystem:
Einerseits will ich ihn nicht wahrhaben & strenge mich deshalb wie wahnsinnig an, eben doch die besten Dinge im Leben zu bekommen (& bin damit anfällig für die Durchhalteparolen der Leistungsgesellschaft - "Vom Tellerwäscher zum Millionär" & all die anderen Märchen);
andererseits glaube ich ja daran, dass die besten Dinge im Leben eh nichts für mich sind & das Ganze deshalb sinnlos. Erfüllung bekomme ich auf die Art nie, weil ich sie mir selber nicht gönne (dadurch erliege ich immer wieder den Verlockungen des Konsums, der bis ins Unendliche gesteigert werden kann & doch immer wieder nur innere Leere hinterlässt).
Es ist so wie gleichzeitig Vollgas geben & die Bremse durchtreten.

Ich weiss aber immer noch nicht, wer der Dämon ist & was er will.
Frage ich mich also, was sind eigentlich für mich die besten/schönsten Dinge im Leben?
An erster Stelle stehen da Beziehungen zu Frauen, nicht nur aber auch sexuelle. In diesem Bereich hat nämlich der Satz am allerstärksten gewirkt: ich hatte noch nie eine Freundin. Obwohl ich immer wieder davon träumte.
Am wichtigsten ist mir dabei die Intimität. Körperlich & seelisch nackt sich selbst & einem anderen Menschen begegnen. Oder auch nur seelisch nackt, oder nur körperlich nackt. Close to it all.
So nackt & nah bin ich natürlich ungeschützt. Aber: ich muss mich doch auch nicht schützen.

Mich schützen. Aha. Da kommen wir der Sache doch langsam näher.
Der Dämon will mich also - auch mit Hilfe des Satzes - vor intimer Nähe zu dem Besten & Schönsten im Leben schützen. Genauer: er will mich vor der Gefahr schützen, dieses Beste & Schönste wieder zu verlieren oder gar nicht erst zu bekommen. Glaube ich, dass das von vornherein eh nicht geht, dann versuche ich es gar nicht erst & spüre auch keinen so grossen Verlust.
Die Schraube, an der ich selber nun drehen kann, ist "wie schlimm wäre das tatsächlich für mich?" Denn ein Verlust ist es ja faktisch gar nicht. Schliesslich habe ich über zwei Jahrzehnte ohne "The best things in life" gelebt, & gar nicht mal so schlecht. Also was habe ich denn bitteschön zu verlieren?
& "The best things in life aren't for free" stimmt auch insofern, als ich von mir aus bereit sein muss, das Schönste im Leben geschenkt zu bekommen. Mein Einsatz in diesem Spiel ist demnach, mich von positiven wie negativen Erwartungen zu befreien. Anders ausgedrückt: ich "bezahle" also die besten Dinge im Leben mit meiner Dankbarkeit.

Ha! Ein klassischer Fall von Reframing!

Donnerstag, 19. Januar 2006

Der Schwarm

Grundsätzlich lese ich keine Bücher, nur weil sie auf Bestsellerlisten auftauchen. Genauso wenig wie ich Musik aus den Charts höre. Eher mache ich einen Bogen um solche "Massen-Unterhaltung". Harry Potter & die Titanic-Verfilmung habe ich mir z.B. gespart.
Schwarm-Cover
Der Schwarm von Frank Schätzing wurde mir jedoch nachdrücklich von einem Freund empfohlen, der Geologie studiert. Ein Mann vom Fach also, den sowohl die hervorragend recherchierten wissenschaftlichen Grundlagen des Romans als auch die philosophischen Überlegungen, die darin angesprochen werden, begeisterten. Thomas: Vielen Dank für den Tipp & liebe Grüsse!
Nachdem nun endlich die Taschenbuch-Fassung erschienen ist, konnte ich nicht mehr widerstehen.

Vorneweg kann ich sagen, dass der Roman einer der spannendsten ist, den ich seit langem gelesen habe. & das kombiniert mit Unmengen fundierten Informationen & tiefgründigen Gedanken. Eine grandios geschilderte Fülle von teils genialen Ideen macht diesen Roman zum absoluten Muss!

Ein Film zum Buch ist auch schon in der Mache. Hatte ich mir auch mehrmals beim Lesen gedacht, "ob sich Hollywood daran schon die Filmrechte gesichert hat?"

Hier in diesem Artikel werde ich mich auf die nicht fiktiven Teile des Buches beschränken & nichts über die Handlung verraten. Auch wer das Buch nicht kennt & noch lesen will, kann also gefahrlos weiterlesen. ^^

Den Prolog hatte ich schon im Sommer gelesen, seitdem liess mich das Buch nicht mehr los & ausserdem kann ich nicht mehr guten Gewissens Fisch essen. Es geht nämlich um den peruanischen Fischer Ucañan, der noch mit einem Caballito, einem Schilfboot, aufs Meer fährt.

Inzwischen wurde er seiner Empfindungen nicht mehr Herr. Einerseits fühlte er sich bestraft. Von El Niño, der Peru seit Menschengedenken heimsuchte & für den er nichts konnte. Von den Umweltschützern, die auf Kongressen von Überfischung & Kahlschlag sprachen, dass man förmlich die Köpfe der Politiker sah, wie sie sich langsam drehten & auf die Betreiber der Fischereiflotten starrten, bis ihnen plötzlich auffiel, dass sie in einen Spiegel schauten. Dann wanderten ihre Blicke weiter auf Ucañan, der auch für das ökologische Desaster nichts konnte. Weder hatte er um die Anwesenheit der schwimmenden Fabriken gebeten, noch um die japanischen & koreanischen Trawler, die an der 200-Seemeilen-Zone nur darauf warteten, sich am hiesigen Fisch gütlich zu tun.

Sigur Johanson, (fiktiver) Biologe an der NTNU, beschäftigt sich mit Borstenwürmern samt Bakterienkonsortien, die auf & in den Würmern in Symbiose leben.
Die Würmer stellen im Roman ein Hindernis für die Erdölförderung in der Nordsee dar. Eine von insgesamt 450 Förderplattformen in der Nordsee & ein Schauplatz der Geschichte ist Gullfaks C. Das Maximum der weltweiten Erdölförderung ist ein zentrales Thema des Buches; zwar liegen noch erhebliche Reserven unter den Meeresböden & anderswo, es wird jedoch zunehmend schwieriger & damit teurer, diese zu fördern.

Im Grunde war das Nordsee-Ölgeschäft defizitär geworden. Allein, es einzustellen hätte noch grössere Probleme mit sich gebracht.
Schätzing legt Prof. Gerhard Bohrmann (zu ihm später mehr) folgende Worte in den Mund:
"Als der Ölboom losging, hat man sich keine Gedanken darüber gemacht, wie man den ganzen Schrott wieder entsorgt bekommt, den man da so lustig ins Meer gestellt hat. Man hat Abwässer & Chemikalien in die See & in die Flüsse geleitet nach dem Motto, sie werden's schon schlucken, radioaktives Zeug im Ozean versenkt, Ressourcen & Lebensformen ausgebeutet & vernichtet, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie komplex die Zusammenhänge sind."
[...]
"Vielleicht ist das der grundlegende Unterschied zwischen Wissenschaft & Industrie. Wir sagen: Solange nicht hinreichend bewiesen ist, welche Rolle dieser Wurm spielt, können wir eine Bohrung nicht empfehlen. Die Industrie geht von derselben Prämisse aus, gelangt aber zu einem anderen Resultat."
"Solange nicht bewiesen ist, welche Rolle der Wurm spielt, spielt er keine." Johanson sah ihn an. "& was glauben Sie? Spielt er eine Rolle?"
[...]
"Die Industrie verwechselt den Idealfall gerne mit der Wirklichkeit. Sie will ihn damit verwechseln. Sie wird sich von allen Prognosen immer die sonnigste heraussuchen, damit es schneller losgehen kann, auch wenn man nichts weiss über den Kosmos, in den man da eingreift."

Hier wurde ich an den Romanzyklus Erdsee von Ursula K. LeGuin erinnert. Die Bücher handeln von Magie, & ein wesentliches Prinzip dort ist, dass alles miteinander zusammenhängt. D.h. auch wenn ein grosser Magier einen Zauber spricht, kommt er nicht umhin, die Auswirkungen seines Zaubers auf die nähere & fernere Umgebung zu berücksichtigen. Mit unserer Technik ist es nicht anders.


Leon Anawak, ebenfalls fiktiver Wissenschaftler, beschäftigt sich mit Walen & deren Intelligenz/Bewusstsein. Grosse Sorge macht ihm die Verseuchung von Orcas & anderen Meeressäugern mit PCB u.ä. Giften. Das Niederfrequenz-Sonar der U.S. Navy Surtass LFA wirkt sich ebenfalls fatal auf viele marine Lebewesen aus.
Eine zentrale Rolle spielen im Buch die Delphine des US Navy's Marine Mammal Program Ein laut U.S. Navy nicht existierendes "System MK0" von Delphinen, die mittels Elektroden im Gehirn ferngesteuert werden, sowie die Behauptung, die Navy forsche daran, Orcas mit nuklearen Sprengköpfen auszurüsten, kann ich zwar nicht bestätigen. Die Navy dementiert natürlich, aber da ihr gar nichts anderes übrig bleibt als zu dementieren, sagt das gar nichts. Militärgeheimnisse (bzw. Geheimwaffen) heissen so, weil sie eben geheim sind. Ich weiss also nicht, ob es so etwas gibt, aber genausowenig kann ich sicher sein, dass es nicht existiert.
Immerhin gibt es einen Bericht des Earth Island Institute über gestrandete Delphine mit Löchern an der hinteren Nackenseite.
Als weitere Forschungseinrichtung, die mit Meeressäugern experimentiert, nennt Schätzing in seinem Roman das französische Laboratoire d'Acoustique Animale.

George Frank, ein Ältester der Nootka & beteiligt an dem Projekt Salmon Coming Home, sagt in einer Unterhaltung mit Leon Anawak diese weisen Worte:
"Hishuk ish ts'awalk."
[...]
"Es ist der Kerngedanke fast aller indianischen Kulturen. Die Nootka reklamieren ihn für sich, aber ich schätze, anderswo sagen die Menschen dasselbe in anderen Worten: Alles ist eins. Was mit dem Fluss passiert, passiert mit den Menschen, den Tieren, dem Meer. Was einem geschieht, geschieht allen."
"Stimmt. Andere nennen es Ökologie."


Anawaks Gedanken zu einem Ausflug übers Eis in Nunavut: Mit dem Beginn ihrer Reise übers Eis würden sie einzig den Regeln der Natur folgen. Um hier draussen zu bestehen, brauchte man eine gewisse pantheistische Grundhaltung. Man durfte sich nicht wichtig nehmen. Man war nicht wichtig, sondern Bestandteil der Welt, die sich in Tieren, Pflanzen & im Eis manifestierte & gelegentlich auch in Menschen.

Gerhard Bohrmann & Erwin Suess arbeiten tatsächlich beim Forschungszentrum Geomar, & dort gibt es auch wirklich einen Tiefseesimulator.
Im Buch erklärt Bohrmann einer Schulklasse, was es mit Methanhydrat auf sich hat, von dem schätzungsweise 10 Teratonnen am Meeresboden liegt. Mehr sage ich dazu an dieser Stelle nicht, wer mehr wissen will, möge den Roman lesen. ;-)

Zitat Bohrmann aus dem Buch:
"Die Konzerne sind die neuen Auftraggeber der Forschung. [...] Die Industrie bezahlt die Forscher, nachdem der Staat es nicht mehr kann."
Eine Folge der Forschungsfinanzierung durch Wirtschaftsunternehmen ist, dass Wissensvorsprünge als Wettbewerbsvorteil gewertet werden, & es deshalb im Interesse der sponsornden Unternehmen ist, wenn WissenschaftlerInnen bestimmte neue Erkenntnisse nicht veröffentlichen. Damit gerät einerseits das Peer-Review als ausgezeichnetes Verfahren in der wissenschaftlichen Methode unter Beschuss, andererseits stellt sich die Situation als eine Art globales Gefangenendilemma dar. Solange eine Partei davon ausgeht, dass die anderen ihrerseits Wissen zurückhalten, wird sie vermeiden, dass die anderen ihr eigenes Wissen in die Finger bekommen. Sie hat also einen individuellen Vorteil von Geheimhaltung. In einer Kultur des Vertrauens & der Offenheit jedoch, in der alle Beteiligten ihre Erkenntnisse veröffentlichen, profitieren auch alle davon, & zwar überproportional zu ihrem eigenen Beitrag. Rishab Ayer Ghosh bezeichnet das als Cooking Pot Market - ein grosser Kochtopf, in den alle hineinwerfen, was sie beizusteuern haben, & aus dem sich jedeR das nimmt, was er/sie gerade braucht.
Somit ist auch das grundsätzliche Misstrauen aller Geheimdienste (d.h. auch diese Einrichtungen selbst), wie es im Schwarm beschrieben wird, im 21. Jahrhundert anachronistisch geworden.
David Brin schreibt über das Spannungsfeld von Privatsphäre & Transparenz in seinem Buch The Transparent Society.

Der fiktive Forscher Lukas Bauer untersucht den Golfstrom als Teil des Globalen Förderbandes von Meeresströmungen.


Um sich ein Bild zu machen, was Globalisierung bedeutet, ist ein Blick auf die Nadelöhre des Welthandels sehr aufschlussreich: der Ärmelkanal, die Straße von Gibraltar sowie die Malakkastraße konkurrieren um den Titel der meistbefahrensten Meeresstrasse der Erde. Durch die Strasse von Malakka fahren im Schnitt 600 Schiffe/Tag, bis zu 2000 an manchen Tagen. Die Meerenge ist 400 km lang, an der engsten Stelle gerade mal 24 km breit. Wenn's da rummst, dann ist das wie eine Thrombose des Welthandels.

Wenn's bei einem der Seekabel rummst, beispielsweise dem Transatlantik-Nachrichtenkabel TAT-14, dann können viele Menschen diesen Text hier nicht mehr lesen, weil diese Kabel nämlich die zentralen "Nervenleitungen" des Internet sind. Telefonverbindungen laufen nebenher auch noch drüber, beanspruchen jedoch heute nur noch einen geringen Teil der Bandbreite.
Als Ausweichmöglichkeit bietet sich einer der gut 3.500 Satelliten im Orbit - davon sind allerdings nur etwa 600 noch funktionsfähig, & auch nur ein Teil davon dienen der Datenübertragung.
Andere, wie der US-Spionagesatellit Keyhole, sind das verlängerte Auge von Big Brother. Entsprechende Passagen in Der Schwarm erinnerten mich an den Film Staatsfeind Nr. 1.

Aber zurück zum Welthandel:
"In der Regel werden Rohstoffe immer in den Norden verschifft. Australien exportiert Bauxit, Kuwait Öl & Südamerika Eisenerz. Alles wandert über Entfernungen von bis zu 11.000 Seemeilen nach Europa & Japan, damit in Stuttgart, Detroit, Paris & Tokio Autos, Elektrogeräte & Maschinen entstehen. & die wandern in Containerfrachten wieder zurück nach Australien, Kuwait oder Südafrika. Fast ein Viertel des gesamten Welthandels wird im pazifisch-asiatischen Raum abgewickelt, das entspricht einem Warenwert von 500 Milliarden US-Dollar. Unwesentlich weniger ist es im Atlantik. - Die Hauptballungszentren des Seeverkehrs sehen Sie dunkel markiert. Die amerikanische Ostküste mit Schwerpunkt New York, der europäische Norden mit Ärmelkanal, Nordsee & Ostsee bis hinauf zu den baltischen Republiken, das gesamte Mittelmeer, insbesondere die Riviera. Den europäischen Meeren kommt eine zentrale Bedeutung für den Welthandel zu, das Mittelmeer dient ausserdem als Seeweg von der nordamerikanischen Ostküste durch den Suezkanal nach Südostasien. Nicht zu vergessen die japanischen Inseln & der Persische Golf! Im Kommen ist das Chinesische Meer, es zählt neben der Nordsee zu den am dichtesten befahrenen Gewässern der Erde. Um die Abläufe des Welthandels auf den Meeren zu verstehen, muss man dieses Netzwerk verstanden haben. Man muss wissen, was es für die eine Seite des Globus bedeutet, wenn auf der anderen ein Containerfrachter sinkt, welche Produktionswege unterbrochen werden, wie viele Arbeitsplätze gefährdet sind, wenn es die Existenz oder das Leben kostet & wer vom Unglück profitieren könnte. Der Flugverkehr hat die Passagierschiffahrt abgelöst, aber der Welthandel hängt am Meer. Nichts kann den Wasserweg ersetzen."
[...]
"Tanker & Frachter sind Gebilde, die zur Hälfte aus Hightech bestehen. Die andere Hälfte ist archaisch. Schiffsdiesel & Rudermaschine mögen komplizierte, hoch entwickelte Konstrukte sein, aber unterm Strich dienen sie dazu, eine Schraube im Kreis zu drehen & ein Stück Stahl hin- & herzubewegen. Man navigiert mit GPS, aber Kühlwasser wird durch ein Loch ins Innere gepumpt. Warum auch anders? Man schwimmt ja darin. So einfach ist das."

So robust wie unsere technischen Gerätschaften & das System unserer Handelsbeziehungen auf den ersten Blick erscheinen, aktuell zeigt z.B. die Aussetzung des Handels an der Tokioter Börse, wie empfindlich das System Weltgesellschaft durch seine Komplexität geworden ist.

Die Auswertung der Daten des Geosat -Systems lieferte erstaunliche Erkenntnisse über die Form der Meeresoberfläche: Die Erde wird gelegentlich als "Kartoffel" bezeichnet, weil die Masseverteilung so ungleichmässig ist; die Kugelform ist jedenfalls nur noch andeutungsweise zu erkennen. Aufschlussreich dabei: Die Höhe der Wassersäule lässt auf den Meeresboden schliessen - wo sich grosse Gesteinsmassen gegenüber ihrer Umgebung erheben, da liegt auch der Wasserspiegel höher als anderswo.

Warum die Kanareninsel La Palma eine tickende Zeitbombe ist, lies am besten im Roman nach!

Um mal einen ganz groben Eindruck von der Fülle des Lebens in der Tiefsee zu bekommen:
In einem einzigen Liter Oberflächenwasser wuselten Dutzende Milliarden Viren, eine Milliarde Bakterien, fünf Millionen tierische Einzeller & eine Million Algen bunt durcheinander. Selbst Wasserproben aus der lichtlosen & lebensfeindlichen Tiefe jenseits 6.000 Meter förderten noch Millionen Viren & Bakterien zutage.

Zwar arbeitet beim SETI-Projekt in Arecibo keine Samantha Crowe, die Romangestalt basiert jedoch auf einer real existierenden Forscherin. Für mich die tiefsinnigste Stelle des Buches ist ihr Vortrag über Evolution:
"Fortschritt? Komplexität?" Crowe schüttelte den Kopf. "Was meinen Sie? Ist Evolution Fortschritt?"
Buchanan sah gequält drein.
"Gut, schauen wir mal", sagte Crowe. "Evolution, das ist der Kampf ums Dasein, das Überleben des Stärksten, um bei Darwin zu bleiben. Beides resultiert aus Widrigkeiten, entweder aus dem Kampf gegen andere Lebewesen oder gegen Naturkatastrophen. Es gibt also eine Weiterentwicklung durch Auslese. Aber führt das automatisch zu höherer Komplexität? & ist höhere Komplexität ein Fortschritt?"
"Ich bin nicht sehr bewandert in Evolution", sagte Peak. "Mir stellt es sich so dar, dass die meisten Lebewesen im Verlauf der Naturgeschichte immer grösser & komplexer geworden sind. Auf jeden Fall die menschliche Rasse. Aus meiner Sicht ganz klar das Resultat eines Trends."
"Ein Trend? Falsch. Wir sehen nur einen kleinen historischen Ausschnitt, innerhalb dessen gerade mit Komplexität experimentiert wird, aber wer sagt uns, dass wir nicht als Sackgasse der Evolution enden? Es ist unsere Selbstüberschätzung, mit der wir uns als vorläufigen Höhepunkt eines natürlichen Trends betrachten. Sie alle wissen, wie ein Evolutionsstammbaum aussieht, dieses verzweigte Gebilde mit Haupt- & Nebenästen. Also, Sal, wenn Sie sich so einen Baum vorstellen, wo würden Sie die Menschheit sehen? In einem Haupt- oder Nebenast?"
"Zweifellos als Hauptast."
"Das hatte ich erwartet. Es entspricht der menschlichen Sichtweise. Wenn viele Arme einer Tierfamilie aussterben, neigen wir dazu, den Überlebenden zum Hauptarm zu erklären. Warum? Nur weil er - noch - überlebt? Vielleicht sehen wir aber nur eine unbedeutende Nebenlinie, die es ein bisschen länger schafft als die anderen. Wir Menschen sind die einzige verbliebene Art eines einst üppigen Evolutionsbusches. Der Rest einer Entwicklung, deren übrige Zweige verdorrt sind, der letzte Überlebende eines Experiments mit Namen Homo. Homo Australopithecus: ausgestorben. Homo habilis: ausgestorben. Homo sapiens neanderthalensis: ausgestorben. Homo sapiens sapiens: noch da. Vorübergehend haben wir die Vorherrschaft über den Planeten errungen, aber Vorsicht! - Parvenüs der Evolution sollten Vorherrschaft nicht mit innerer Überlegenheit & längerfristigem Überleben verwechseln. Wir könnten schneller wieder verschwunden sein, als uns lieb ist."
"Möglicherweise haben Sie Recht", sagte Peak. "Aber Sie lassen etwas Entscheidendes ausser Acht. Diese einzige überlebende Art besitzt auch als einzige Spezies ein hoch entwickeltes Bewusstsein."
"Einverstanden. Aber betrachten Sie diese Entwicklung bitte vor dem Gesamtpanorama der Natur. Erkennen Sie da wirklich einen Fortschritt oder herausragenden Trend? 80 Prozent aller Vielzeller erfreuen sich eines weit grösseren Evolutionserfolges als der Mensch, ohne dass sie diesen angeblichen Trend zu höherer Nervenkomplexität ausgebildet hätten. Unsere Ausstattung mit Geist & Bewusstsein ist ein Fortschritt einzig aus unserer subjektiven Weltsicht. Dem Ökosystem Erde hat diese bizarre, unwahrscheinliche Randerscheinung Mensch bisher nur eines eingebracht: einen Haufen Ärger."
[...]
"Kommen Sie endlich in der Wirklichkeit an, wir sind nur eine kleine Gruppe aus der Spezies der Säugetiere, die von der Evolution längst noch nicht als Erfolg verbucht wurde. Die erfolgreichsten Säuger sind Fledermäuse, Ratten & Antilopen. Wir repräsentieren nicht das letzte, krönende Stück Erdgeschichte, sondern nur irgendeines. Es existiert kein Trend zu krönenden Epochen in der Natur, nur Auslese. Die Zeit mag eine vorübergehende Zunahme körperlicher & geistiger Komplexität bei einer Spezies dieses Planeten verzeichnen, aber das ist aufs Gesamte betrachtet kein Trend & schon gar kein Fortschritt. Allgemein zeigt das Leben keinen Impuls in Richtung Fortschritt. Es fügt dem ökologischen Raum ein komplexes Element hinzu, während es zugleich die simple Form der Bakterien seit drei Milliarden Jahren bewahrt. Das Leben hat keinen Grund, etwas verbessern zu wollen."
[...]
"Der Mensch verrät die Sache der Welt, indem er ein Missverhältnis schafft zwischen den Lebensformen & ihrer Bedeutung. Er ist die einzige Spezies, die das tut. Wir werten. Es gibt böse Tiere, wichtige Tiere, nützliche Tiere. Wir beurteilen die Natur nach dem, was wir sehen, aber wir sehen nur einen winzigen Ausschnitt, dem wir übersteigerte Bedeutung beimessen. Unsere Wahrnehmung ist auf grosse Tiere & auf Wirbeltiere ausgerichtet, & hauptsächlich auf uns selber. Also sehen wir überall Wirbeltiere. Tatsächlich liegt die Gesamtzahl der wissenschaftlich beschriebenen Wirbeltierarten bei knapp 43.000, darunter mehr als 6.000 Reptilienarten, zirka 10.000 Vogelarten & rund 4.000 Säugetierarten. Demgegenüber sind bis heute fast eine Million Wirbellose beschrieben worden, darunter alleine 290.000 Käferarten, die damit schon mal alle Wirbeltierarten um das Siebenfache übertreffen."
[...]
"Wir sind nicht erfolgreich", sagte Crowe. "Wenn Sie Erfolge sehen wollen, betrachten Sie die Haie. Sie existieren in unveränderter Form seit dem Devon, seit 400 Millionen Jahren. Sie sind hundertmal älter als jeder Urahne des Menschen, & es gibt 350 Arten."

Mir hat Der Schwarm vor Augen geführt, welch ein komplexes System mein (unser!) Lebensraum, die Erde, ist, & wie relativ unwichtig wir Menschen doch für das Ganze sind. Angesichts dieser Tatsache tun wir gut daran, bescheiden & demütig zu sein anstatt unser individuelles & kollektives Ego aufzublasen.
Unter geologischen Maßstäben sind wir Menschen gerade mal ein Augenzwinkern von Mutter Erde alt. Sich das vor Augen zu führen ernüchtert ungemein; es wischt alle eingebildete Wichtigkeit, von wegen "Krone der Schöpfung" & so, einfach weg.
Gleichzeitig bedeutet das, dass wir auf die Unterstützung unzähliger Organismen zählen können, wenn wir uns denn selber kooperativ verhalten. Nur ein ganz direktes Beispiel: ohne unsere Darmflora könnten wir einpacken, die machen nämlich die ganze Verdauungs-Drecksarbeit für uns. Mit grossem Staunen las ich, dass die Bakterien in unserem Darm von der Medizin sogar als ein eigenes Organ betrachtet werden!


Als gute Ergänzung zu diesem hauptsächlich naturwissenschaftlich geprägtem Roman bietet sich Eine Billion Dollar von Andreas Eschbach an. Darin erfährst Du eine ganze Menge darüber, wie unser globales Finanz- & Wirtschaftssystem funktioniert; also die gesellschaftlichen Hintergründe des Desasters, das wir Menschen mit unser heissgeliebten Technik auf der Erde anrichten, weil wir immer alles ganz schnell erledigt haben wollen. Nein, nicht bloss ganz schnell, sondern immer schneller!! Dieses "immer schneller, immer mehr" liegt unserem im Augenblick vorherrschenden globalen Geldsystem zugrunde.
Damit ist nicht gesagt, dass mit einer Änderung dieses Geldsystems alles gut würde. Es ist in jedem Fall ein ganz massgeblicher Faktor in dem grossen Spiel mit Namen "menschliche Geschichte" oder schlicht "Menschheit". Die Spezies homo sapiens sapiens ist noch mittendrin in ihrer Bewährungsprobe - & die wird auch nie zu Ende sein, bzw. exakt dann wenn unsere Art ausstirbt.
Die Evolution ist so etwas wie das Poppersche Falsifikationsprinzip in der Praxis. Arten sind immer nur relativ erfolgreich. & nur das Scheitern lässt sich eindeutig nachweisen.
Wenn wir als Art auf diesem Planeten überleben wollen, sollten wir verdammt nochmal die Art wie wir wirtschaften überdenken. Das funktioniert nämlich nicht auf Dauer nach dem Prinzip der Unsichtbaren Hand, dem Utilitarismus nach dem Motto "wenn alle an sich denken, ist an alle gedacht". Kooperation ist angesagt. Das hat andere Spezies viele Hundert Millionen Jahre überdauern lassen. Wer zu aggressiv über sein Futter herfällt, macht's nicht lange, weil er sich die eigenen Lebensgrundlagen entzieht.


Wem Der Schwarm gefällt, der/dem empfehle ich den Roman Earth (oder auf deutsch: Erde) von David Brin. Das ist ein ähnlich tiefsinniger Science Fiction-Roman, der anstatt von Vorgängen in der Tiefsee vielmehr Experimente mit Gravitationsstrahlen zum Thema hat. Brin spielt ein Szenario einige Jahrzehnte in der Zukunft durch.

Mittwoch, 18. Januar 2006

Verbindlichkeit - der Klebstoff von Gemeinschaft

Weil ich vorletzte Nacht bis halb sieben den Roman "Der Schwarm" durchgelesen hatte (dazu später mehr), kam ich nicht zur verabredeten Kochschicht gestern Vormittag. Meine Mitköchin war deshalb berechtigterweise sauer auf mein Verhalten.
Mir ist in der Situation aufgefallen, dass in Verbindlichkeit verbinden drinsteckt. Sage ich jemandem verbindlich etwas zu, dann verbindet mich das mit dieser Person. Von daher ist die Bezeichnung "Klebstoff" durchaus angebracht. Schulden bezeichnet das Recht drum auch als Verbindlichkeiten.
Ein verwandter Begriff ist die Haftung. Hafte ich für meine Entscheidungen, dann klebe ich sozusagen daran, & alles was daraus folgt, habe auch nur ich allein voll zu verantworten. Aus diesem Grund bin ich seit einiger Zeit grosser Fan von Personengesellschaften, weil eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung was von Schwanz einziehen hat.

Don Juan Matus aus den Büchern von Carlos Castaneda sieht das Ganze sehr radikal, was mir durchaus gefällt:

"Die Verantwortung für seine Entscheidung übernehmen, heisst bereit sein, für sie zu sterben."
[...]
"Es kommt nicht auf die Art der Entscheidung an", sagte er, "nichts ist ernster oder weniger ernst als alles übrige. Siehst du das nicht? In einer Welt, wo der Tod der Jäger ist, gibt es keine kleinen & grossen Entscheidungen. Es gibt nur Entscheidungen, die wir angesichts unseres unausweichlichen Todes treffen."
[...]
"Was immer du tust, es kann deine letzte Tat auf Erden sein. Es kann sehr wohl deine letzte Schlacht sein. Keine Macht der Welt kann dir garantieren, dass du noch eine Minute länger leben wirst."

Mir wurde gestern Vormittag bewusst, dass meine Entscheidung, beim Kochen mitzuhelfen, nur halbherzig war. Ich war nicht bereit, dafür zu sterben. Das Resultat war in diesem Fall deutlich.
Vor einigen Tagen habe ich begonnen, mir diese Frage zu stellen: Bin ich bereit, für diese Entscheidung zu sterben?
Als ich die Jahna entlang wanderte, wollte ich sie überqueren an einer Stelle, wo im Abstand von einem halben bis einem Meter grosse Steine im Wasser lagen. Zuerst schreckte ich davor zurück, aus Angst daneben zu hüpfen & im eiskalten Wasser zu landen. Dann fragte ich mich, bin ich bereit für diese Entscheidung zu sterben, & beantwortete die Frage nach kurzem Abwägen mit Ja.
Ich hab mich unglaublich lebendig gefühlt, als ich daraufhin von Stein zu Stein die Jahna überquerte. Solche Entscheidungen haben Kraft, die ganze Kraft meines Lebens. Es gibt nichts zu bereuen, denn selbst wenn ich sterbe, war ich ja bereit dazu.
Wenn ich andererseits nicht bereit bin, für etwas zu sterben, dann lasse ich's besser sein, weil's sonst halbherzig wird.

Freitag, 13. Januar 2006

Mit Tyler Durden zum Nullpunkt

Ich hab mich noch nie in meinem Leben geprügelt. "Was weisst du über dich, wenn du dich nie geprügelt hast?" fragt Tyler Durden. Wahrscheinlich habe ich mir deshalb heute zum dritten Mal Fight Club angeschaut. Absolut krasser Film, vielleicht sogar der krasseste Film den ich je gesehen habe.

Schon vor einer ganzen Weile hab ich mich gefragt, was bin ich bereit aufs Spiel zu setzen? Denn wenn mein Einsatz - den ich im Spiel verlieren kann - mir nicht wertvoll ist, wie will ich dann etwas Wertvolles gewinnen?

Wenn du dich prügelst, kannst du verdammt hart was auf die Fresse kriegen, es tut tierisch weh & kann auch mal bleibende Spuren hinterlassen, Narben, Lücken im Gebiss. Für mich wohl das Entscheidende: Ich kann nicht kontrollieren, was in einem Kampf mit mir geschieht.
Es fliesst Blut. Das zeigt, dass der Kampf echt ist, dass es um was geht. Authentisches Erleben.
Dem Schmerz, den du da erfährst, kannst du nicht ausweichen, du kannst ihn nicht betäuben. Du kannst nicht vor ihm davonlaufen. Du kannst dich nicht drücken. Dir bleibt nichts anderes übrig als dich zu verantworten. Du stellst dich deiner Angst, deinem Schmerz. Du bleibst da & gibst dich hin, direkt, ungefiltert.

Fight Club ist eine spirituelle Parabel. Eine Geschichte des Erwachens. Schonungslos erzählt. Zu erwachen ist nämlich kein Zuckerschlecken, sondern brutal. Die Wahrheit ist nur die Wahrheit, wenn sie weh tut. Wenn sie dich zerstört, wenn sie kein Stück deiner Identität beim alten lässt. Erwachen ist Sterben. Der Nullpunkt, wie Tyler Durden es nennt.

Erst nachdem wir alles verloren haben, haben wir die Freiheit, alles zu tun.

Allerdings hab ich keine zweite Persönlichkeit, die mal eben meine Wohnung sprengt. Zugegeben, ich hab meine Wohnung aufgegeben - aber es gibt immer noch ne Menge Zeug, an das ich mich hänge. Ein guter Teil davon befindet sich auf der Festplatte dieses Notebooks hier.

Also gehe ich den langwierigen Weg des Erwachens. Aus Angst, die volle Dosis auf einmal könnte mich umbringen oder wahnsinnig werden lassen. Dabei geht es genau darum. "Ich" definiere "mich" über meine persönliche Geschichte, baue mich aus alten Gewohnheiten & Routine zur Identitäts-Festung aus. Sehne mich zugleich nach Nähe, aber wer will schon einer Festung nahe sein?
Ich bin echt ein totaler Kontroll-Fanatiker. Wesentliches Merkmal eines Süchtigen, wie ich inzwischen weiss. Denn die totale Kontrolle kann nur eine Illusion sein, niemand ist schliesslich allmächtig.

Mein inzwischen schon Monate währender Kraftsatz "Lehn dich zu weit aus dem Fenster!" ist ein Versuch, mich aus meiner Programmierung herauszureissen. Solange ich mich nur fast zu weit aus dem Fenster lehne & gerade noch im letzten Moment mich selber "rette", bleibt alles beim alten. Mit der Situation kann ich umgehen, dafür verfüge ich über altbewährte Handlungsmuster.
Falle ich aber tatsächlich aus dem Fenster raus, dann versagen alle Programme. Das wäre eine neue Situation, in der ich auf keinerlei Regeln & altes Wissen zurückgreifen könnte. Mich prügeln wäre sowas. Zum Beispiel. Allerdings ein Beispiel, das mir gehörig reinfährt & mich tief verunsichert.

Trotzdem ist mir das alles noch tausendmal lieber als bei "Satsangs" irgendwelchen "Erleuchteten" hinterher zu rennen.

Wenn Tyler das hier sagt, meint er mich ganz persönlich:

Hör auf, alles kontrollieren zu wollen - lass einfach los!

Spirituelles Erwachen ist eine einsame Angelegenheit. Meiner Angst kann ich mich nur ganz alleine stellen. Gemeinschaft ist da ganz weit weg. & es wäre mehr als vermessen, von meiner Gemeinschaft zu erwarten, dass sie bei mir ist, wenn ich Angesicht zu Angesicht vor meiner Angst zu sterben stehe. Das kann keine Gemeinschaft. Dafür ist Gemeinschaft auch nicht da. Eine Lebensgefährtin oder ein Lebensgefährte genauso wenig.
Loslassen kann ich nur ganz allein für mich - denn ich ganz allein halte mich fest an meinem Selbstbild, meiner Identität, meinen Gewohnheiten.

Spirituelles Erwachen ist wahrhaft eine einsame Angelegenheit. Puuh.

Du bist nicht dein Job. Du bist nicht das Geld auf deinem Konto. Nicht das Auto, das du fährst. Nicht der Inhalt deiner Brieftasche. Und nicht deine blöde Cargo-Hose.
Du bist der singende, tanzende Abschaum der Welt.

Montag, 28. November 2005

MOD - Die Musik des Amiga

Um ein paar Tage zu überbrücken, bin ich seit gestern Abend bei Wolfram in Ilmenau zu Besuch (er studiert dort an der TU & ist übrigens bei der Organisation der International Student Week in Ilmenau aktiv). Er ist derjenige, der mich auch in die C64-Musik einführte. Nun hat er mir ein paar seiner C64-Demos gezeigt & die Musik auf der Originalhardware vorgespielt - das rockt!
Mich fasziniert an der ganzen C64-Geschichte vor allem, dass dieser Rechner ja schon uralt ist & die Leute immer noch neue Möglichkeiten daran entdecken. Schon so ein vergleichsweise kleines technisches Gerät zeigt, dass wir Menschen Maschinen erfinden können, die zunächst das tun was sie sollen & aber noch viel mehr können. Wir Menschen sind in der Lage, uns Dinge auszudenken, die wir selber nur ansatzweise verstehen!
Was das eigentlich bedeutet, beginne ich erst ansatzweise zu begreifen.

Mir fielen dann bei der Gelegenheit die MODs ein, das Musikformat, das vor allem auf dem Amiga verbreitet war & ist.
Ne coole Website mit MODS u.a. Chiptunes ist www.chiptune.com, meine alte MOD-Lieblingsseite MAZ Sound Tools gibt's als Archiv noch, heute verkauft MAZ Sound Tools z.B. eine MOD-Doppel-CD & eine DVD sowie ein Buch zur Demoszene. The Mod Archive bietet über 32.000 MODs zum Download.
Eine meiner Lieblings-MOD-Musikgruppen ist Radical Rhythms, die machen supergeile Technomucke.

Um diese Musik in hoher Qualität abspielen zu können, war lange Zeit eine Gravis Ultrasound-Soundkarte das Gerät der Wahl. Ich hab auch noch eine GUS PnP im Karton liegen.
Mein Lieblings-Player unter Windows ist XMPlay, der kann auch OGG/MP3/WMA & taugt somit als Allround-Player.
Unter DOS habe ich den XTC-Player benutzt, ein cooles Teil. Um DOS kommt mensch übrigens manchmal nicht herum, vor allem um so genannte Music Disks anzuhören. Das sind komplette MOD-Alben als Programme.
Um sowas auf heutigen Systemen abzuspielen, ist DOSBox ein geniales Programm.

Donnerstag, 24. November 2005

Kato-Gesprächsabend in Bremen

Kato? Who the f**k is Kato? Das fragte ich mich damals, als ich den Artikel in der KursKontakte über das Kato-Prinzip las. Erst als ich mir dann auch das Buch gekauft hatte, erfuhr ich darin, dass sich der Name auf den Karatekämpfer in den Inspektor Clouseau-Filmen bezieht.
Es geht beim Kato-Prinzip darum, auf spielerische Art Achtsame Kommunikation zu üben. Der Karatekämpfer Kato wurde deshalb zum Namensgeber, weil Inspektor Clouseau ihn engagiert, um ihn in jeder denkbaren Situation zu überfallen. Auf diese Weise schult Clouseau seine Achtsamkeit.
Heute Abend wurde mir noch einmal klar, was der Grundgedanke des Kato-Prinzips ist: JedeR ist für sich selbst voll verantwortlich, & zwar nur für sich selbst! Jeder Versuch, eigene Verantwortung abzugeben oder sich für andere zu verantworten gibt Punkte. Diese Punkt sind also allesamt Minuspunkte. Analog zu Inspektor Clouseau & Kato spielt mensch am besten in einer Gruppe, so dass sich die Leute gegenseitig auf solche Formulierungen aufmerksam machen. Es geht zwar prinzipiell auch allein, vieles bemerken jedoch andere eher als mensch selber.
Ich habe bisher keine Gruppe dafür gefunden & trotzdem meine Aufmerksamkeit so geschult, dass ich so gut wie nicht mehr "ich muss ..." sage. Sage ich z.B. "Ich muss morgen um halb acht aufstehen", dann stelle ich mich zum Aufstehen wie einer Naturgewalt. Dabei entscheide ich mich doch selbst - aus mehr oder weniger guten Gründen - dafür, um diese Uhrzeit aufzustehen.

Mit Formulierungen wie "Fahr vorsichtig!" oder "Zieh dich warm an!" oder auch "Bist du sicher, dass du das schaffst?" misstraue ich meinen Mitmenschen, dass sie selbst verantworten können was sie tun. Folglich gibt es auch für solche Phrasen Punkte. Das gefällt mir am Kato-Prinzip sehr: Den Grundsatz der vollen Verantwortlichkeit für mich selbst habe ich gefälligst auch auf alle anderen Menschen anzuwenden. Sobald ich also mit zweierlei Mass messe, hagelt es Punkte.
Oft versucht mensch ja auch, andere für etwas (allein) verantwortlich zu machen, woran mensch selbst mindestens einen erheblichen Anteil trägt. Das ist das Gegenstück dazu, anderen Menschen ihre Verantwortung für sich selbst abzusprechen; es wirkt genauso negativ.

So weit war mir also schon vor dem heutigen Abend klar, was das Kato-Prinzip will. Die beiden AutorInnen, Stephanie Bergold & Otmar Preuß (siehe SprungChance) boten zum zweiten Mal einen Gesprächsabend an. Ausser mir war noch eine andere Frau da - es war also eine sehr kleine Runde! Dadurch hatten sie & ich viel Gelegenheit, mit Stephanie & Otmar über das Buch zu sprechen & das Kato-Prinzip "am eigenen Leib zu erfahren".

Ich sprach beispielsweise die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) von Marshall Rosenberg an, die mir vor allem im ZEGG & auch bei anderen Gelegenheiten schon mehrfach begegnete. Das Kato-Prinzip weist nämlich starke Ähnlichkeiten dazu auf, geht jedoch noch einen entscheidenden Schritt weiter:
Während Rosenberg ganz zentral von Bedürfnissen ausgeht (sowohl eigenen als auch denen der anderen Menschen, mit denen ich kommuniziere), haben sich Stephanie Bergold & Otmar Preuß vom Bedürftigkeits-Denken verabschiedet. Für ein Bedürfnis bin ich letztlich nicht verantwortlich, es erscheint als "meine Natur". Womit wir übrigens wieder bei der New Age-Kritik wären.
Mir gefällt aus diesem Grund das Kato-Prinzip besser als die GFK. So rede ich seit einiger Zeit nicht mehr von Bedürfnissen, sondern von Interessen. Ein Interesse ist nichts Absolutes wie ein Bedürfnis, das ich auf die ein oder andere Weise unbedingt befriedigen muss - ich kann ggf. einen Kompromiss aushandeln oder mein Interesse bis auf Weiteres ganz zurückstellen & mich anderen Interessen widmen. So steige ich aus der Opferrolle aus & erkenne an, dass ich ein freier Mensch bin.
Dieser Ausstieg aus der Opferrolle kann sehr schmerzhaft sein, siehe dazu die Bücher von Arno Gruen, vor allem sein bekanntestes Werk Der Wahnsinn der Normalität.

Der Unterschied wird an folgenden Zitaten deutlich:
Wir gehen davon aus, dass es keine Herausforderungen gibt. Wir sind allem gewachsen & können mit jeder Situation umgehen. Deswegen brauchen wir uns nicht, was umgekehrt nicht heisst, wir wären nicht füreinander da. Das heisst nur: Wir sind nicht mehr besorgt umeinander. Sich umeinander sorgen basiert auf Angst, auf der Annahme, der andere sei nicht stark genug. Damit aber können wir einander schwächen.
Leben wir ehrlich, so heisst das:
  1. Wir nehmen keine Rücksicht auf andere (im Sinne von schonen).
  2. Wir wissen, dass der andere mit allem umzugehen weiss.
  3. Wir schonen uns nicht.
Rücksicht ist nicht gewärtig & meint: "Du hast nicht so viel Kraft, du bist kein ganzer Mensch." Und: "Ich weiss, was besser für dich ist." (Anmerkung im Buch: Es gibt auch die andere Bedeutung von "Rücksicht", im Sinne von achtsam sein. Deswegen ist es wichtig, genau hinzuschauen, was gemeint ist, wenn von "Rücksichtnahme" die Rede ist.)
Die beiden AutorInnen vertreten damit eine sehr radikale Auffassung; ich mag diese Sicht der Dinge. Denn mir ist ja sehr daran gelegen, emanzipatorische Denkansätze zu finden & (weiter-) zu entwickeln.

Neu für mich waren die folgenden Einsichten in die Natur des Fragens:
"Inquisitorische Fragen" ("wo warst Du gestern Abend?" u.ä.) geben nämlich auch Punkte. & generell ist Fragen eine heikle Angelegenheit, weil damit Machtstrukturen in die Kommunikation hineinkommen. Zugespitzt lässt sich formulieren:
Der Frager hat immer die Macht!
Denn wer eine Frage gestellt bekommt, gerät dadurch in Zugzwang. Der/die Fragende erwartet schliesslich eine Antwort. Vor allem die Warum-Fragen sind gefährlich. Dazu ein weiteres Zitat:
Eine andere Möglichkeit, Machtspiele zu spielen, ist, von anderen Gründe für ihre Entscheidungen zu verlangen, anstatt diese anzuerkennen, auch wenn sie uns nicht gefallen. Sie sind vor allen Dingen gegenüber Kindern beliebt, die damit unter Rechtfertigungsdruck gesetzt werden: "Warum hast du das getan?" In weniger ernsten Fällen kommen Kinder oft noch mit einem "Darum" davon, wobei diese Antwort zeigt, dass ihnen vollkommen klar ist, wie unangemessen sie eine solche Frage empfinden. Bei Erwachsenen scheint das nicht mehr so klar zu sein.
Mir ging die radikale Ablehung des Fragens, sofern ich nicht tatsächlich etwas Sachliches wissen will, zuerst zu weit. Immerhin habe ich für mich vor einiger Zeit ein universelles Recht, sich einzumischen postuliert, kombiniert mit dem Grundsatz des Rechtsstaats: Der Angeklagte hat das Recht die Aussage zu verweigern. Auch wenn die Struktur der Sprache das nahelegt, so muss ich doch auf keine Frage antworten. Ich habe jederzeit das Recht zu sagen "Dazu sage ich jetzt nichts".

Im Laufe des Abends kapierte ich, was für ein grundlegender Paradigmenwechsel das ist. Ich frage also z.B. meine Partnerin nicht mehr, wie es ihr grad geht oder wie ihr Tag war. Sondern ich überlasse es ihr, davon zu erzählen oder auch nicht. Indem ich frage, versuche ich Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen; oder wenn nicht das, so dränge ich ihr doch auf jeden Fall auf, worüber sie mit mir redet.
Anders - & im Sinne des Kato-Prinzips - läuft das ab, wenn ich von mir spreche. Damit mache ich ihr lediglich ein Angebot. Ob sie darauf eingeht, oder von sich aus über etwas ganz anderes spricht, liegt an ihr.
Stephanie Bergold nannte als Beispiel einen Kurs, den sie an der Volkshochschule gegeben hatte. Am Schluss wünschte sie sich ein Feedback der KursteilnehmerInnen. Fragt sie nun "Wie hat Ihnen denn der Kurs gefallen?", oder sagt sie von sich selbst ausgehend "Mich interessiert, wie Ihnen der Kurs gefallen hat. Wer mag, kann jetzt dazu etwas sagen", dann fühlt sich das sehr unterschiedlich an. Im einen Fall fühle ich mich genötigt, den Kurs zu kommentieren (& dabei auch noch möglichst positiv!), im anderen Fall kann ich etwas dazu sagen, wenn es mir selber wichtig ist, ich kann aber auch einfach schweigen.

Der Schweizer Psychologe Aron Ronald Bodenheimer hat zu diesem Thema ein kleines Büchlein (erschienen im Reclam Verlag) geschrieben: Warum? Von der Obszönität des Fragens. Das werde ich mir demnächst besorgen.
Als Fazit ist jedenfalls hängen geblieben: Frage nur, wenn du tatsächlich etwas vom anderen wissen willst!

Übrigens ist Jean Gebser eine wesentliche Inspirationsquelle für das Kato-Prinzip.

Es hat mich besonders im Rahmen meiner Gemeinschaftsreise zum Kato-Gesprächsabend gezogen, weil das Kato-Prinzip in Gemeinschaften bestimmt sehr sinnvoll sein kann. Gerade wo Menschen nicht nur zusammen wohnen, sondern gemeinsam arbeiten & leben, entschärft die Haltung, sich selbst für das was mensch tut zu verantworten, viele Konflikte.

Dienstag, 15. November 2005

Vortrag "Liebesverträge" im Dr. Max-Otto-Bruker-Haus

Ein Freund von mir, der eine Ausbildung zum Gesundheitsberater bei der Gesellschaft für Gesundheitsberatung macht, hatte mir einen Besuch im Dr. Max-Otto-Bruker-Haus in Lahnstein empfohlen. Dr. med. Max Otto Bruker, der Anfang 2001 starb, engagierte sich zeit seines Lebens für eine gesundheitliche Aufklärung jenseits von Pharmaindustrie & Apparatemedizin. Für ihn stand eine gesunde Ernährung im Mittelpunkt.
Auf der Homepage erfuhr ich, dass der Psychotherapeut Dr. phil. Mathias Jung wöchentliche Vorträge im Bruker-Haus hält. Zu einem dieser Vorträge bin ich heute einfach mal hingefahren. Das Thema hiess:

Liebesverträge in der Beziehung


Zu Beginn seines Vortrags & auch immer wieder zwischendrin betonte Mathias Jung, dass Liebe Arbeit bedeutet. Er hat auch ein Buch mit dem Titel Liebesarbeit geschrieben. Viele Paare glauben, dass Liebe irgendwie von selbst kommt. Wozu dieser Glaube führen kann, dazu zitierte er August Strindberg:
Manche Ehen sind wie Todesurteile, die auf Raten vollstreckt werden.
Weiter las er dann aus dem Brief einer Frau vor, die später zu ihm in die Therapie gekommen ist. Sie ertrug aus Angst vor dem Alleinsein, dass ihr Mann & sie nebeneinander her leben.
Dabei ist das Wichtigste in Liebesbeziehungen: Miteinander kommunizieren!

Mathias Jung sagte dazu einen Satz, der für mich deutlich macht, in welcher Tiefe Liebe tatsächlich Arbeit & miteinander Ringen bedeutet:
Ein Paar muss in der Beziehung manchmal an den Rand des Abgrunds treten.

Noch einmal zu der Frau, die nur noch mit ihrem Mann zusammen lebte, weil sie nicht allein sein wollte:
"Weil ich ohne dich leben kann, kann ich mit dir leben" - so formulierte Jung den Spruch eines reifen Paares. Denn wer mit jemand zusammenlebt, weil er/sie nicht ohne die andere Person leben kann, liebt nicht, sondern klammert sich an.

Angesichts der post-traditionellen Gesellschaft ist Partnerschaft eine Leerformel, die die Liebenden selbst auszufüllen haben. Paare müssen buchstäblich alles verhandeln, weil es keine unhinterfragt gültigen Maßstäbe mehr gibt, wie das noch bei der Generation meiner Eltern der Fall war.
In dieser Situation ist Schweigen tödlich!

& doch ist jeder letzlich im Kern für den anderen fremd. Es kann also nicht darum gehen, dass sich die PartnerInnen vollkommen verstehen.

In einem kleinen "Exkurs" stellte Mathias Jung dann eine Reihe seelischer Defizite von Männern vor, die eine Folge unserer patriarchalen Lebensumstände sind. Er bezog sich dabei auf das Buch Der verunsicherte Mann von Herb Goldberg. Männer (in patriarchalen Kulturen) halten folgendes kaum bis gar nicht aus:
  • Abhängigkeit
  • Passivität
  • um Hilfe bitten
  • Angst zugeben
  • Traurigkeit
  • Berührung
  • irrationales Verhalten
Ich erinnere in dem Zusammenhang nur an die "Weichei"- & "Warmduscher"-Welle, die vor einigen Jahren in der deutschen Männerwelt umging.

Zurück zu den Liebesbeziehungen. Ein zweiter zentraler Satz des Vortrag ist Liebe ist Reden! Auch darüber hat Mathias Jung ein Buch geschrieben: Das sprachlose Paar.
Er stellte nun das Zwiegespräch nach Michael Lukas Moeller vor, das dieser in seinem Buch Die Wahrheit beginnt zu zweit beschrieben hat.
Jung empfiehlt, sich einmal im Monat zum Zwiegespräch zu treffen, das eine Stunde dauern soll.
Vorbereitend suchen beide Partner mögliche Themen für das Gespräch aus & einigen sich auf das drängendste davon. Wichtig: Es geht dabei nie um Schuldzuweisungen!
Das Setting ist sehr wichtig für ein gutes Zwiegespräch. Es findet in einem schön gestalteten Raum statt, während des Gesprächs darf es keinerlei Störung geben, denn es handelt sich um einen heiligen Raum. Das muss vorher ganz klar sein, auch Kinder dürfen nicht stören. Bei Bedarf kann ja für die Dauer des Zwiegesprächs eine Kinderbetreuung organisiert werden.
Die Partner sitzen sich während des Zwiegesprächs ganz dicht gegenüber & halten Blickkontakt.
Vom Ablauf her ist das Gespräch in drei Abschnitte zu je 20 Minuten unterteilt. Die ersten 20 Minuten spricht eineR der Partner, der/die andere hört zu. Dann spricht die andere Person, während die erste zuhört. Die letzten 20 Minuten sind dann Dialog.
Wenn einem vor Ablauf der Zeit nichts mehr einfällt, schweigt mensch halt. Das kann ein sehr intimes Erleben sein.

Die wichtigste Regel für das Gespräch lautet: Aussagen als Ich-Botschaften formulieren!

Mathias Jung bezeichnet das Zwiegespräch als "die kleinste Selbsthilfegruppe derr Welt" ;-)

Zärtlichkeit ist wichtiger als Sexualität!
Diese Aussage passt genau zu meinem Entschluss aus der Twenzeit, mindestens bis Ende diesen Jahres die Sexualität aussen vor zu lassen & mich ganz auf zärtliche Annäherungen zu Frauen zu konzentrieren.

Der letzte Teil des Vortrags stellte schliesslich die Liebesverträge bzw. Liebesvereinbarungen vor. Geregelt werden kann & sollte alles, was das Paar betrifft. Mathias Jung betonte besonders die Geldfragen & Vereinbarungen über Sexualität. Aber auch so etwas Banales wie "wer trägt den Müll runter" ist oft Anlass für Streitigkeiten, & zwar weil es keine für beide eindeutige Regel gibt.
Jung empfiehlt, sich etwa einmal im Jahr zu einem Vereinbarungsgespräch zu treffen. Es ist auch möglich, das als Familienkonferenz oder Familienrat mit den Kindern & ggf. noch anderen Verwandten gemeinsam zu tun. Aber für das was nur zwischen den beiden Partnern geregelt werden soll, wird der Rest der Familie nicht benötigt.
Beide Partner bereiten sich gut auf das Vereinbarungsgespräch vor, indem sie ihre Verhandlungspositionen schriftlich notieren. Das sollte so konkret wie möglich geschehen, denn Aussagen wie "ich wünsche mir mehr Zärtlichkeit von Dir" sind so allgemein, dass der Partner gar nicht weiss, was von ihm denn nun erwartet wird.
Es geht ums klar benennen was ich will & was nicht!
Im Zweifelsfall einigt sich das Paar in einem Punkt lieber vorerst nicht, als dass sich eineR der beiden etwas aufdrängen lässt.

Komplimente sind ein Punkt, der selten explizit zwischen Partnern geregelt ist. Das führt dann oft dazu, dass sich beide mangels Komplimente ihres Partners vernachlässigt fühlen. Dazu kann z.B. vereinbart werden, dass der Mann sich bei seiner Frau für das Essen bedankt, das sie ihm jeden Tag kocht, & sie sich im Gegenzug bei ihm dafür bedankt, dass er das Geld ranschafft. Um mal als Beispiel die trotz Frauenemanzipation immer noch vorherrschende Konstellation zu nehmen.

Es bietet sich an, die Ergebnisse der Verhandlung schriftlich an die Wand zu hängen, so dass beide immer wieder überprüfen können, ob ihre Vereinbarungen eingehalten werden.



Wenn ich irgendwann auch mit einer Partnerin zusammen lebe, werde ich das alles mal ausprobieren.

Montag, 7. November 2005

SID - die Musik des C64

Vergangenes Wochenende haben sich die ZEGG-Twens in Bremen getroffen. Am Samstag waren wir auf der Anti-Atom-Demo in Lüneburg, für mich das herausragendste Ereignis war allerdings die Entdeckung der C64-Musik.
Schon seit einigen Monaten habe ich die High Voltage SID Collection (HSVC) auf meinem Rechner, ohne allerdings reingehört zu haben. Als Wolfram, einer der Twens, sie entdeckte, spielte er mir ein paar Tracks vor, die mich völlig wegbliesen. Es ist der absolute Wahnsinn, was diese Leute aus dem Sound Interface Design (SID) Chip des C64 rausholen!!!!!
Wolfram programmiert übrigens C64-Grafikdemos, daher kennt er auch die Musik.

Diese Art der Musik habe ich kennen & lieben gelernt durch Demos wie Second Reality von der Future Crew, aber auch durch mein absolutes Lieblings-Computerspiel Star Control II. Vor ein paar Monaten habe ich dann eine finnische Musik-Website entdeckt, auf der es Unmengen von Space Synth aber auch ganz viel andere Musik von unbekannten Künstlern kostenlos zum Herunterladen gibt. Da habe ich mich damals fett eingedeckt ;-)
Tja, & nun kann ich den Rest meines Lebens damit verbringen, die über 30.000 Tunes der HSVC zu hören...

Zum Abspielen dieser Musik brauchst Du übrigens sidplay2 (bzw. sidplay2/w für Windows). Für XMMS gibt's ein Plugin, allerdings liefert sidplay2 die beste Soundqualität nach dem Original. Den Chip gibt es auch als Hardware verbaut:
Die SIDStation ist ein kompletter Synthesizer,
HardSID ist eine PCI-Karte für den PC,
Catweasel MK4 ist "hauptberuflich" ein Floppy-Controller, der aber seit der dritten Generation auch optional einen SID-Chip bietet.
Um auf diesen PCI-Karten C64-Musik abzuspielen, eignet sich speziell der Player ACID 64.

Dienstag, 25. Oktober 2005

Vertrauen riskieren

Der Untertitel meines Blogs heisst ja "Von einem, der auszog, Vertrauen zu lernen." Heute beim Äpfel von den Bäumen schütteln bin ich erneut an eine Angstgrenze gekommen. Auf Bäumen rumklettern löst ab einem bestimmten Punkt körperliche Angst in mir aus. Das habe ich das erste Mal letztes Jahr im ZEGG erlebt, als ich auf den grossen Baum vor dem Gästehaus kletterte. Bis zu einer gewissen Höhe war das überhaupt kein Ding. Dann bekam ich urplötzlich tierische Angst runterzufallen. Mein Herz raste. So heute auch wieder.
Wenn ich dann Julia Butterfly Hill sehe, wie sie auf der Spitze eines Mammutbaums freihändig steht:
Julia auf der Spitze von Luna
- da bin ich einfach sprachlos!

In meinen Träumen fliege ich oft umher. & wenn ich fliegend aufsteige, stosse ich (bis auf eine einzige Ausnahme) an eine unsichtbare Grenze, über die ich einfach nicht hinauskomme. Das ist die Angstgrenze in meinen Flugträumen. Allerdings spüre ich die nicht körperlich, aber ich überschreite sie ja auch nicht.

Die persönliche Freiheit jedes Menschen - die mir ja so wertvoll ist - endet dort, wo dieser Mensch sich von seiner/ihrer Angst beherrschen lässt. Auch wenn ich nicht von völliger Unfreiheit des Willens ausgehe, so begrenzt doch immer die Angst die Willensfreiheit. & folglich wirkt alles emanzipatorisch, was Menschen Mittel an die Hand gibt, wie sie mit ihrer Angst umgehen können.

Ich habe ja seit Herbst 2004 immer einen Kraftsatz bzw. Kraftspruch in meinem Portemonnaie. Normalerweise wechselt der alle paar Tage, spätestens so nach zwei Wochen. Meine derzeitigen Kraftsätze halten schon über einen Monat lang:
Lehn dich zu weit aus dem Fenster!
Überschreite deine Kompetenzen!
Trete nackt in den Sonnenschein hinaus!
Mach dich zum Narren!
& tu es in Liebe von ganzem Herzen!
Dass ich in meinem Blog so deutlich Stelllung bezogen habe was spirituelle Verirrungen & Plastikschamanen angeht, ist für mich ein Novum. Konflikten bin ich wenn irgend möglich aus dem Weg gegangen & habe deshalb kaum mal einen festen Standpunkt eingenommen. Für die Meinungen anderer hatte ich immer unheimlich viel Verständnis & ein "Frauenversteher" war ich sowieso ;-)
Bisher habe ich niemals riskiert mich tatsächlich zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Vollkaskomentalität. Dabei wird das Spiel doch erst richtig geil & fordernd, wenn ich mehr aufs Spiel setze als ich sowieso entbehren kann.
In dem Buch "Die Stimme des Herzens" von Safi Nidiaye habe ich diese Sätze gelesen:
Vertrauen entsteht aus Verbundenheit mit dem Herzen. Vertrauen bedeutet nicht, keine Angst zu haben; Vertrauen bedeutet, die Angst wahrzunehmen und dennoch der Stimme des Herzens zu folgen.
Nichts anderes hat wohl Julia Butterfly gemacht & ist auf diesem Weg ganz nach oben gekommen! ^^

& als i-Tüpfelchen noch ein Zitat von Kristiane Allert-Wybranietz aus meinem Kalender:
Viele meinen, frei zu sein - frei, weil sie sich nie über die Kreise hinausbewegten, an denen ihre Ketten anspannen.

Kontakt

Jabber: iromeister@deshalbfrei.org
Skype: brich.die.regeln
Mail: rincewind_at_
ist-einmalig_punkt_de

Intro

Guten Tag FremdeR! Du bist hier beim Blog eines (Forschungs-) Reisenden zu Gemeinschaften & Kommunen gelandet. Unterwegs bin ich seit Ende Juli 2005, seit ca. Sommer 2006 inzwischen wieder sesshaft. Mehr über mich & mein Projekt erfährst Du im Startschuss-Beitrag. Darin erkläre ich auch, wie Du diesen Blog "bedienst"!
Im Beitrag Eine neue Kultur fasse ich meinen bisherigen Lebens-Schwerpunkt zusammen - darum geht es mir, nicht nur in diesem Blog.

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