Donnerstag, 13. Oktober 2005

Glauben versus Vertrauen

Im abschliessenden Kapitel des "sockenfressenden Monsters in der Wschmaschine" schreibt Christoph Bördlein einige bemerkenswerte Sätze:
Ein Ergebnis der bisherigen Forschungen zur Frage nach der Entstehung und Aufrechterhaltung paranormaler Überzeugungen ist, dass die Gläubigen im Schnitt ein höher ausgeprägtes Bedürfnis nach Kontrolle haben. In diesem Zusammenhang sind auch Unterschiede in der Ambiguitätstoleranz interessant. So bezeichnet man das Ausmass, in dem jemand unklare und vieldeutige Situationen ertragen kann. Die Ambiguitätstoleranz ist ebenfalls von Individuum zu Individuum verschieden: Die Anhänger paranormaler Überzeugungen haben tendenziell eine geringere Ambiguitätstoleranz als der Rest der Bevölkerung, Skeptiker eingeschlossen. Man könnte dies so interpretieren, dass sie sich eher als andere auf etwas festlegen müssen.
Viele paranormale Überzeugungen erfüllen den Zweck, ihren Anhängern wenn nicht Kontrolle, so doch wenigstens die Illusion von Kontrolle zu geben. Wenn ich weiss, dass "Fische" heute besonders vorsichtig sein müssen, kann ich mich auf eventuelle Missgeschicke einstellen. Auch die Fehler anderer sind leicht erklärt: "Der Mann ist Widder, die sind halt so bockig." Wer sowas wirklich glaubt, muss sich keine Gedanken über die möglichen wahren Ursachen des Verhaltens anderer machen [& sieht auch keinen Anlass sie nach Gründen zu fragen, Iromeister]. Auch besteht nicht die Gefahr, dass man eventuell bei sich selbst nach Fehlern suchen sollte.
Parawissenschaften haben fast immer eindeutige Antworten: Unbekannte Flugobjekte sind die Raumfahrzeuge Ausserirdischer. Wenn in einem Haus Gegenstände ohne erkennbaren Grund durch die Luft fliegen, dann war es ein Poltergeist. Sie liefern Erklärungen, wo Wissenschaftler zunächst schweigen und auf eine langwierige Untersuchung verweisen müssen, bei der am Ende auch kein hundertprozentig sicheres Ergebnis herauskommt. Für viele Menschen scheint das inakzeptabel. Sie möchten Sicherheit, nicht ein vages "vielleicht".
Skeptiker sein, heisst Unsicherheit ertragen können. Dadurch unterscheidet er sich auch vom Dogmatiker: Der nämlich glaubt zu wissen, dass das alles Quatsch ist und zwar ohne sich damit auseinanderzusetzen. Der Skeptiker hat niht immer gleich die Auflösung des Rätsels bei der Hand, er muss suchen und prüfen. Und selbst dann ist die Lösung nicht der Weisheit letzter Schluss. Der Skeptiker vermag dann nur die Wahrscheinlichkeit dafür, dass wirklich etwas Paranormales vorgefallen ist, besser einzuschätzen. Solange der Fall nicht untersucht ist, fällt er kein Urteil.
Sokrates war vielleicht der erste Skeptiker nach diesem Verständnis, denn er ging bei seinen philosophischen Untersuchungen immer davon aus: "Ich weiss, dass ich nichts weiss." Skeptiker stellen sich absichtlich dumm, damit sie sich nicht selber täuschen & meinen, sie wüssten die Antwort schon bevor sie den Sachverhalt geprüft haben.

Diese letzten Absätze aus dem Buch werfen ein neues Licht auf eine Frage, die sich mir derweil auch noch gestellt hatte: Wie hängen Glauben & Zweifeln einerseits mit Vertrauen & Misstrauen andererseits zusammen? Es stellt sich heraus, dass Glauben gerade von mangelndem Vertrauen bzw. Misstrauen zeugt, während Vertrauen den Zweifel aushält & sich dessen ungeachtet geborgen weiss. Wem es an Vertrauen fehlt, die/der versucht alles zu kontrollieren & eindeutig zu machen.
Die spannende Frage dabei: Lassen sich die Ambiguitätstoleranz & das Aushalten von Unbestimmtheit trainieren? Es sind dies beides nämlich extrem wichtige Voraussetzungen für eine wahrhaft freiheitlich-demokratische Gesellschaft.

Übrigens machen auch Wissenschaftler eine ganze Menge Fehler, weil sie als Menschen nun mal unvollkommen sind: Most scientific papers are probably wrong. Deshalb spielt das Peer-Review so eine grosse Rolle in der wissenschaftlichen Methode.
Wer des Englischen mächtig ist, dem empfehle ich als guten Einstieg in die Problematik die sci.skeptic FAQ.

Ich erwähne noch mal speziell das Tarot-Kartenlegen, weil das bei meinen FreundInnen einigermassen verbreitet ist. Erklären lässt sich die Wirkung durch den Barnum-Effekt. Weil die Botschaften des Tarot, wie im übrigen auch der Astrologie & eigentlich aller Arten von Hellseherei sehr allgemein gehalten sind, lassen sie sich leicht auf einen selbst beziehen.

Die Gefahren des Poststrukturalismus in der Linken

Christoph Bördlein hat mich in seinem Buch auf die Sokal-Affäre aufmerksam gemacht. Der (politisch linke) Physiker Alan Sokal hat 1996 einen Nonsens-Artikel in der Zeitschrift Social Text veröffentlicht, ohne dass die Herausgeber dies vorher bemerkt haben. Es genügte also offensichtlich, sich in der Ausdrucksweise an die oftmals völlig sinnentleerten (& dabei höllisch kompliziert zu lesenden!) Texte des PoststrukturalistInnen anzupassen, damit der Artikel als "wissenschaftlich" durchgeht.
Auf seiner Webseite hat Alan Sokal den Originalartikel sowie viele andere Kommentare von verschiedenen Seiten gesammelt. Besonders empfehle ich das Nachwort zu lesen, weil er darin erläutert, warum das poststrukturalistische Denken im Endeffekt systemstützend & damit reaktionär wirkt. Da diese weit verbreitete akademische Richtung einen erkenntnistheoretischen Relativismus vertritt, nimmt sie sich selbst (& ihren Anhängern!) die Möglichkeit kritisch zu hinterfragen. Wo es nur noch subjektive Wahrheiten gibt, kann ich den Wahrheitsgehalt von Aussagen nicht mehr kritisieren. Eine solche Haltung ist natürlich sehr bequem: Ich brauche nicht mehr mit Argumenten begründen was ich denke, sondern das ist halt meine persönliche Meinung & damit basta. Darauf kann ich mich prima ausruhen.
In der Politik heisst das jedoch, dass ich meine Interessen nicht mehr argumentativ durchsetzen kann. Ausserdem kann das Ergebnis jeder politischen Analyse einfach als nicht zutreffend abgelehnt werden. Recht hat letztlich wieder, wer die Macht hat. Aus diesem Grund war & ist das skeptische Denken, das von einer intersubjektiv gültigen Wirklichkeit ausgeht, anhand derer sich Aussagen überprüfen lassen, eine starke & wichtige Waffe jeder emanzipatorischen Bewegung. Von daher halte ich es für einen fatalen Fehler der Linken, dass sie dem poststrukturalistischen Relativismus aufgesessen ist. Das bedeutendste Werk dieser Richtung ist sicherlich Empire von Hardt & Negri.
Übrigens trifft diese Kritik den Radikalen Konstruktivismus, der ebenfalls in akademischen Kreisen & auch ausserhalb davon "in" ist.

Dienstag, 11. Oktober 2005

Wer nicht fragt bleibt dumm

Die ersten Tage in der anarchistischen Kommune Burg Lutter bei Goslar am Rande des Harz haben mich viel zum Nachdenken gebracht. Auf Wunsch einiger BewohnerInnen werde ich über die Gemeinschaft selber nicht so ausführlich berichten. Momentan dominieren die aufgeworfenen Fragen eh bei mir.

Skeptizismus

Ich bin hier stark mit skeptischem Hinterfragen von Glaubenssystemen aller Art konfrontiert. Seit ein paar Tagen lese ich in dem Buch "Das sockenfressende Monster in der Waschmaschine" von Christoph Bördlein aus dem Alibri-Verlag. Diese Überlegungen knüpfen an meinen Eintrag Wissenschaft & Effektive Mikroorganismen an. Ein Zitat aus dem Buch:
Glauben heisst Für-wahr-halten in Abwesenheit von stützender Evidenz.
Der Autor publiziert übrigens regelmässig im Skeptiker.

Kritisiert wird u.a. auch das Weltbild des ZEGG. Einerseits wegen der spirituellen Weltsicht (Stichwort "Feldbildung"), zum anderen weil das ZEGG nicht-heterosexuelle Geschlechterverhältnisse komplett ausblendet - von Transgendern mal ganz abgesehen. Wer sich als emanzipatorisches Projekt versteht, muss sich die eigenen Ausgrenzungsmechanismen bewusst machen, um nicht im Endeffekt reaktionär zu werden. Dabei ist die Kenntnis des confirmation bias (Bestätigungstendenz) sehr nützlich. Was wir denken (können), bestimmt unsere Wirklichkeit. Vieles erscheint zunächst einmal undenkbar & oft brauchen wir einen kognitiven Schock damit das Undenkbare denkbar wird. So ein Schock stellt sich z.B. ein, wenn ich feststelle dass ich mich geirrt habe. Das ist niemandem angenehm, aber es bewahrt vor intellektueller Überheblichkeit & Vor-Urteilen. Womit wir wieder bei den Lektionen in Demut wären.
Die Kritik trifft natürlich viele (Gemeinschafts-) Projekte, nicht nur das ZEGG.
Mir ist bei der Beschäftigung mit diesem Thema mein alter Artikel Denken und sich Empören in der BüSo-Parteizeitung eingefallen. Bei der BüSo war ich mal ein Jahr Mitglied; ein dunkles Kapitel meines Lebens... Was ich damals geschrieben habe, kann ich nach wie vor unterschreiben, wenn ich auch manches inzwischen anders formulieren würde.

Anarchismus & die Macht des Systems

Anarchie auf Burg Lutter heisst für die BewohnerInnen selbstbestimmt leben. Es gibt nur ganz wenige selbst auferlegte Regeln. Das finde ich interessant, weil für mich Anarchie gar nicht "möglichst wenige Regeln" bedeutet, sondern "nur (gemeinsam) selbst aufgestellte Regeln". Aber in einer so kleinen Gemeinschaft braucht es einfach wenige Regeln.
Das setzt natürlich voraus, dass die Einzelnen eigenverantwortlich handeln - was in unserer Gesellschaft trotz der Rhetorik aus CDU & FDP nicht erwünscht ist & dem entsprechend den Menschen von klein auf abgewöhnt wird. Die Schule leistet da ganze Arbeit. In diesem Zusammenhang verweise ich beispielsweise auf die Schulverbesserer aus Berlin.

An mir selber bemerkte ich mit Schrecken, wie mich z.B. meine Süssigkeitensucht an das kapitalistische System bindet. Als ich im Supermarkt an den Regalen vorbeilief, gab mir die Tatsache dass ich mir jederzeit was dort kaufen kann ein Gefühl von Sicherheit. Natürlich ist diese Sicherheit von zwei Seiten bedroht: mensch könnte mir den Geldhahn zudrehen, oder das Angebot könnte verknappt werden. Das machen ja z.B. die Energiekonzerne seit der Liberalisierung des Strommarktes, oder auch die Bahn seit sie ne Aktiengesellschaft ist.

Aus anarchistischer Perspektive kann Selbstversorgung in beliebig grossem Rahmen geschehen. Die Hauptsache dabei ist, dass das Leben & speziell das Wirtschaften herrschaftsfrei selbst organisiert wird. Es gibt viele bisher noch sehr kleine & nicht koordinierte Projekte dieser Art. Das wirkt anfangs oft sogar systemstabilisierend, siehe z.B. Selbsthilfe von Arbeitslosen. So etwas spart dem Staat Kosten. Wird aber erst mal eine bestimmte Grössenordnung erreicht, dann entstehen "Parallelstrukturen", die dem Staat ein Dorn im Auge sind. Den Grosskonzernen übrigens auch. Denn wer solcherart selbst organisiert lebt, kauft keine Produkte der Konzerne. Insofern kann auch der Tag der Regionen als Beginn einer subversiven Bewegung gesehen werden. & das ist gut so! Zumal sich solche Bewegungen explizit nicht als gegen den Staat gerichtet sehen (Stichwort Agenda 21), sondern das Zusammenleben der Menschen im jeweiligen Staat umgestalten wollen.

Samstag, 8. Oktober 2005

Studiert Chemie!

Der Artikel Über kurz oder lang von Wolf Lotter aus dem brand eins Magazin hat mir aus mehreren Richtungen Impulse gegeben.
Für meine Forschungsfrage in Sachen Konsensentscheidungen relevant ist ein Zitat des Münchener Soziologen Armin Nassehi:
"Die Demokratie hat man vor allem auch deshalb eingeführt, um Entscheidungsprozesse zu verlangsamen. Wenn einer allein entscheidet, geht das in der Regel ganz schnell. Die Willkür ist eine sehr schnelle Angelegenheit. Aber wenn man Parlamente hat, Ministerien, demokratische Strukturen, dann kann nicht schnell über einen Kamm geschert werden. Man kann mehr Meinungen berücksichtigen und Komplexität besser verarbeiten, wenn man ganz bewusst auf die Bremse tritt."
Das gilt natürlich umso mehr für Entscheidungen im Konsens aller Betroffenen.

Der Unternehmensberater Ulrich Golüke sagt:
"Risiken sind immer in der Zukunft liegende Ereignisse, man muss sie also mit Langfristigkeit behandeln. Eine kurzfristige Gesellschaft ist nicht mehr in der Lage, eine Übereinkunft darüber zu treffen, wer wofür verantwortlich ist – sie kann also die Risiken nicht mehr verteilen."
Nun aber zum Hauptteil dieses Beitrags, der auch die Überschrift erklärt. Michael Braungart ist ein Mensch, den ich unbedingt mal kennen lernen will. Er stellt der herrschenden Lehre von der Öko-Effizienz die Öko-Effektivität gegenüber:
"Hinter der gegenwärtigen Vorstellung von Ökologie steckt nichts Langfristiges, sondern nur ein romantisches Naturbild, zu dem immer auch gehört: Der Mensch ist schlecht. Denn wer die Natur überhöht, der muss den Menschen schlecht machen. Damit das Gewissen nicht so drückt, kaufen diese Leute Recycling-Produkte, zum Beispiel Klopapier, das als Recycling-Produkt aber derart viele Halogenwasserstoffe enthält, dass das Trinkwasser versaut wird. Kurzfristig ist das gut fürs Gewissen, das muss genügen. Man kauft ein Recycling-Produkt und ist damit kein ganz schlechter Mensch mehr, kein 100-prozentiges Schwein, sondern nur mehr ein 90-prozentiges."
"Effizienz steht für Kurzfristigkeit, Effektivität für Langfristigkeit", sagt Braungart, "das Effizienzdenken ist ein Mangelsystem. Man versucht, mit immer weniger von etwas auszukommen, zu vermeiden, zu sparen. Doch das ist der falsche Weg. Effektivität hingegen heißt, die Dinge grundlegend richtig zu machen."
An dieser Stelle fiel mir Professor Hans-Curt Flemming wieder ein, der als Experte für Abwasseraufbereitung ebenfalls mit Unternehmen zusammenarbeitet, um deren Produktionsprozess grundlegend richtig zu machen anstatt deren Fehler nachher wieder auszubügeln.
Etwas weiter hergeholt & dennoch im Thema fiel mir der Artikel Leistungsgrenzen von Fredmund Malik ein. Darin schreibt er nämlich, dass Menschen nicht an ihre Leistungsgrenzen kommen & alles geben was sie können, wenn sie nur darauf bedacht sind, ihre Schwächen loszuwerden. Das ist Effizienzdenken. Wer effektiv denkt, konzentriert sich auf die Stärken & was sich damit alles machen lässt.
"Wir arbeiten nach der Evolution. Denn die Evolution ist pure Vielfalt, weil das langfristig das einzige richtige Prinzip ist. Die Natur ist nicht sparsam oder vermeidet gar etwas, sondern ist im Gegenteil ungeheuer verschwenderisch. Es gibt von allem immer viel mehr, als nötig ist."
Ein konkretes Beispiel:
Wer so denkt wie Braungart, öko-effektiv, der findet heraus, dass Autofahren für die Umwelt eine großartige Sache sein kann. In Katalysatoren verbrennen heute bei Temperaturen um 1700 Grad Celsius Millionen Tonnen Stickoxide. Sie werden nach dem Willen der Öko-Effizienten unschädlich gemacht. "Mit dem Output an Stickoxiden, die in Katalysatoren heute noch nutzlos verbrannt werden, kann man den größten Teil des Weltbedarfs an Stickstoffen decken – und den braucht man für Dünger. Aber der wird heute mit enormem Energieverbrauch und unter beträchtlicher Umweltschädigung extra erzeugt."

Diesen Irrsinn plant Braungart nun gemeinsam mit dem Automobilhersteller Ford abzustellen. Ein Katalysator soll dabei herauskommen, der die nützlichen Stickoxide abfiltert. "Rein rechnerisch produzieren wir damit mehr, als die Landwirtschaft benötigt. Damit können wir die Mär von der Autoindustrie als einer der umweltschädigendsten Industrien überhaupt vergessen."
Ein letztes Zitat von Michael Braungart:
Unter seinen Studenten finden sich heute aber immer mehr Leute, die "Gott sei Dank so eitel sind, dass sie sagen: ,Ich will etwas wirklich besser machen, besser, als uns das Normen und Politik vorschreiben‘". Das klingt überheblich? "Eitelkeit ist für den Erfolg von langfristigen Projekten wahnsinnig wichtig. Qualität ist nämlich viel wichtiger als Moral." Tatsächlich wollten die meisten Menschen, wie die Bauherren von früher, ein wenig Ewigkeit haben, ein bisschen unsterblich sein.
Wer das in seinem Konsumverhalten in die Praxis umsetzen will, dem seien hier die beiden Versandhandelshäuser Manufactum & Biber empfohlen. Ausserdem habe ich mit einem Paar Socken sowie einem T-Shirt von SmartWool bisher beste Erfahrungen gemacht auf meiner Reise. Ach ja, meine Schuhe von ComfortSchuh hatte ich schon erwähnt, sie passen hier aber gut nochmal hin.

Montag, 3. Oktober 2005

Friedensdorf San José de Apartadó revisited

Jetzt verstosse ich gleich mit dem darauffolgenden Beitrag gegen meine Regel, mindestens drei Tage zu warten...
Ich weise nämlich auf einen gerade eben gelesenen Artikel in der jungen Welt von Leila Dregger hin, der die Situation im Friedensdorf San José de Apartadó in Kolumbien schildert:

Die Angst vor den Uniformen

Mich erstaunt dabei vor allem, dass Leila Dreggers Artikel in der linken Zeitung "junge Welt" veröffentlicht werden. Dass die Berührungsängste zu spirituellen Menschen in der Linken abnehmen, freut mich. Es müssen ja nicht gleich alle Linken spirituell werden, genauso wenig wie alle Spirituellen linkspolitisch werden müssen. Miteinander reden wirkt jedenfalls auf beide Seiten befruchtend.

Sonntag, 2. Oktober 2005

Twenzeit im ZEGG

Jetzt habe ich ein paar Tage Blog-Pause gemacht, in denen eine ganze Menge geschehen ist. Dass ich jetzt erst nachträglich was über die Twenzeit im ZEGG schreibe, wird fortan immer so sein. Ich habe nämlich beschlossen, frühestens drei Tage nachdem ich etwas erlebt habe, darüber zu schreiben.
Die Gemeinschaftsexpedition I war eine Veranstaltung im Rahmen des Twenprojekts im ZEGG. Das Twenprojekt richtet sich an junge Menschen zwischen 20 & 30 Jahren, wobei die Altersgrenzen nicht gestochen scharf gezogen sind. Es sind auch ein paar "Ehrentwens" dabei ;-)
Bei den Grosstagungen im ZEGG (Pfingsten, Sommer, Herbst & Silvester) gibt es immer eine Gruppe speziell für Twens, & ein- bis zweimal im Jahr eine eigene Twen-Intensivzeit. Wir haben uns inzwischen auch schon zweimal selbst organisiert ausserhalb des ZEGG getroffen.

Diesmal drehte sich die Woche um die Frage, was das Leben in Gemeinschaft eigentlich ausmacht, was dafür wichtig ist an Fähigkeiten & geistigen Grundlagen. Es ging am Freitag zum Abendessen los, ich bin allerdings erst Sonntag gegen Abend angekommen, so dass ich das Wochenende nur kurz anreisse. Am Samstag hat die Gruppe gemeinsam im Wald gearbeitet, der Sonntag drehte sich um das Thema Kooperation.

Der Montag stand, nachdem wir vormittags Äpfel geerntet hatten
Twens beim Äpfel pflücken
im Zeichen der Gewaltfreien Kommunikation (GfK) nach Marshall Rosenberg. Worum es dabei geht, erklärt am besten der Wikipedia-Artikel. Für die Woche war nach meiner Wahrnehmung am Wichtigsten, dass im Prozess der GfK die Selbsteinfühlung am Anfang steht. D.h. in einem Konflikt fühle ich mich zuerst in mich selbst ein, was jetzt gerade mein Bedürfnis ist.

Am Dienstag hatten wir ein ausgedehntes Forum. Das ist eine hier im ZEGG entwickelte Kommunikationsform, die in erster Linie dazu dient, innerhalb einer Gemeinschaft transparent zu machen was in den einzelnen Menschen vorgeht. Während der Twenzeit nutzten wir diese Form ausgiebig. Dabei kamen viele tiefe persönliche Themen zur Sprache, die sich ganz oft als weit verbreitet entpuppten. Das ist eine schöne Sache beim Forum: die Menschen merken, dass ihre Schwierigkeiten gar nicht ihre ganz individuellen Schwächen sind, sondern in vielen Fällen kulturelle Muster darstellen.
Durch den Nachmittag zur GfK angestossen, drehten sich viele Forumsauftritte um die eigenen Bedürfnisse (siehe auch mein letzter Beitrag hier). Manchmal fällt es gar nicht leicht, diese überhaupt wahrzunehmeen, geschweige denn mitzuteilen. Tut mensch's dann doch, fällt einem oft ein Stein vom Herzen, wird eine Last von einem genommen.
Ich habe bei meinem Auftritt verkündet, mich bis Ende diesen Jahres ganz auf mein Bedürfnis nach körperlicher Nähe zu konzentrieren & auf Beziehungen zu Frauen & auf Sex solange ganz zu verzichten. Sonst vermischt sich das schnell miteinander & macht alles viel zu kompliziert. Zum Jahreswechsel betrachte ich mir was sich bis dahin ergeben hat & entscheide daraufhin wie's weitergeht. Also ob ich diese Beschränkung noch ne Weile beibehalte oder ob sie bis dahin ihren Zweck erfüllt hat.

Das nächste Foto zeigt einen der allseits beliebten "Kuschelhaufen":
Foto entfernt auf Wunsch eines der Abgebildeten

Mittwoch haben wir uns zu Paaren zusammen gefunden & jeweils etwa drei Stunden hatte eineR davon eine Augenbinde um, die andere Person führte bzw. begleitete die blinde Person. Das erfordert einiges an Hingabe & Vertrauen. Es gab etliche witzige Begegnungen:
Foto entfernt auf Wunsch eines der Abgebildeten

sowie meditatives Beisammensein:
Blinde & Sehende am Feuer

Ich hatte dann entschieden das Experiment weiterzuführen & blieb noch bis Donnerstag nach dem Abendessen blind (seit Mittwoch Mittag). Dazu hatte ich mich schon morgens entschlossen, & es fühlte sich tatsächlich so an, als würde ich die letzten drei Stunden meines Lebens noch etwas sehen können. Ich spürte dabei ganz deutlich, dass ich nichts von dem festhalten kann, was ich mir ansehe. Das "Erblinden" hatte etwas Endgültiges. & ich glaube, da ist auch wirklich etwas in mir gestorben.

Früh am Morgen hatte ich begriffen, dass meine Angst (die bis heute in mir wirkt) irgendwann früher mal mein Wächter war, der mich beschützte. Ich spürte dieses beschützende Wesen meiner Angst. Sie hat mir einmal gut getan & ist lediglich nach getaner Arbeit nicht wieder gegangen sondern da geblieben. Sie will mir aber nichts Böses. Hmm, ich hoffe das ist jetzt verständlich was ich sagen will.

Als ich entschieden hatte, noch bis zum nächsten Abend blind zu bleiben, merkte ich ziemlich schnell, was eine meiner stärksten Ängste ist: die Angst die Kontrolle zu verlieren. "Meine Freiheit" bedeutete für mich bisher, dass ich selber mich kontrolliere & niemand sonst. Dass es auch ganz ohne Kontrolle gehen könnte, kam in meinem (unbewussten) Denken gar nicht vor.
Mittags sass ich am mit meinem Partner vereinbarten Treffpunkt & wartete, dass er vorbeikommt & mir die Augenbinde gibt, die er vormittags aufhatte. Dabei hatte ich tierische Angst vor dem, was nun auf mich zukommen würde. Als Blinder bist du ja weitgehend darauf angewiesen, dass andere dir helfen. Du kannst viel weniger selber auf eigene Faust machen.
Kaum hatte ich die Binde auf, war die Angst weg. Echt verrückt das.

Wir haben nachmittags zum Abschluss des Blindenexperiments die Eindrücke & Erfahrungen zusammen getragen, wobei es für mich natürlich nur ein Zwischenstand war. Abends sind wir in die Sauna gegangen, was blind echt sehr eindrücklich war. Die Sauna war auch der Grund, warum ich nachmittags mal kurz geschwankt habe ob ich das wirklich machen soll, aber ich hab's durchgezogen:
blinder Iromeister vor der Sauna

Der Donnerstag war ein ziemlicher Schwenk von den eigenen Themen hinaus in die grosse weite Welt. Wir beschäftigten uns mit der Frage, was jedeR einzelne dafür tun kann, dass es den heute lebenden Wesen & den kommenden Generationen besser geht als momentan. Welche Aufgabe habe ich in der Welt, wie setze ich meine Fähigkeiten ein, um das Leben aller Wesen zu fördern & nicht ihnen zu schaden?
Weil die meisten noch so nahe bei ihren eigenen Bedürfnissen waren (es ist in unserer Kultur ja schon ne Leistung, die eigenen Bedürfnisse offen & ehrlich anzuerkennen, ohne sich dafür zu verurteilen), kam deshalb nicht so viel Engagement zum Vorschein wie die GruppenleiterInnen erwartet hatten. Am Nachmittag führten wir deshalb ein sehr fruchtbares Gespräch, das das gegenseite Unverständnis klärte. Menschen funktionieren nun mal nicht nach Plan, & an dieser Stelle danke ich Teresa, François & Yvonne, dass sie so ehrlich & zugleich einfühlsam waren, dass der Tag doch noch eine gute Wendung nahm.

Nach dem Abendessen nahm ich meine Augenbinde wieder ab. In den 1½ Tagen blind sein wurde viel in mir aufgewühlt. Am stärksten empfand ich, dass die Menschen & Dinge mir näher gekommen sind, als ich nichts sehen konnte. Es gab nicht mehr diese Distanz, die sich beim Sehen so schnell in den Vordergrund drängt, die misst & vergleicht & ganz einfach alles voneinander trennt.
Aus dieser Erkenntnis heraus habe ich mir mehreres gelobt:
  • Ich gelobe, mich nicht mehr von mir selber, von den Menschen & den Dingen zu trennen.
  • Ich gelobe, immer wieder innezuhalten & in mich hineinzuspüren, & dem Raum zu geben was gerade da ist.

Das Zweite ist wichtig, habe ich gemerkt, als ich wieder sehen konnte. Da bin ich nämlich ganz unwillkürlich wieder viel schneller geworden. & zwar nicht graduell. Ich habe deutlich gespürt, dass schnell eine andere Qualität ist als langsam. Rein physikalisch ist der Unterschied gar nicht gross, doch wenn ich schnell bin, dann trenne ich mich von der Welt, verliere den Kontakt zu ihr. Es ist eine ganz andere Art sich zu bewegen.
Übrigens fiel mir heute dazu wieder mein Lieblingslied von Melanie ein: Close to it all.
Als eine praktische Konsequenz aus dem Innehalten werde ich meine Blog-Beiträge ab jetzt mit mindestens drei Tagen Verzögerung schreiben. So haben meine Texte genug Zeit zu reifen.

Kontakt

Jabber: iromeister@deshalbfrei.org
Skype: brich.die.regeln
Mail: rincewind_at_
ist-einmalig_punkt_de

Intro

Guten Tag FremdeR! Du bist hier beim Blog eines (Forschungs-) Reisenden zu Gemeinschaften & Kommunen gelandet. Unterwegs bin ich seit Ende Juli 2005, seit ca. Sommer 2006 inzwischen wieder sesshaft. Mehr über mich & mein Projekt erfährst Du im Startschuss-Beitrag. Darin erkläre ich auch, wie Du diesen Blog "bedienst"!
Im Beitrag Eine neue Kultur fasse ich meinen bisherigen Lebens-Schwerpunkt zusammen - darum geht es mir, nicht nur in diesem Blog.

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