Sonntag, 2. Oktober 2005

Twenzeit im ZEGG

Jetzt habe ich ein paar Tage Blog-Pause gemacht, in denen eine ganze Menge geschehen ist. Dass ich jetzt erst nachträglich was über die Twenzeit im ZEGG schreibe, wird fortan immer so sein. Ich habe nämlich beschlossen, frühestens drei Tage nachdem ich etwas erlebt habe, darüber zu schreiben.
Die Gemeinschaftsexpedition I war eine Veranstaltung im Rahmen des Twenprojekts im ZEGG. Das Twenprojekt richtet sich an junge Menschen zwischen 20 & 30 Jahren, wobei die Altersgrenzen nicht gestochen scharf gezogen sind. Es sind auch ein paar "Ehrentwens" dabei ;-)
Bei den Grosstagungen im ZEGG (Pfingsten, Sommer, Herbst & Silvester) gibt es immer eine Gruppe speziell für Twens, & ein- bis zweimal im Jahr eine eigene Twen-Intensivzeit. Wir haben uns inzwischen auch schon zweimal selbst organisiert ausserhalb des ZEGG getroffen.

Diesmal drehte sich die Woche um die Frage, was das Leben in Gemeinschaft eigentlich ausmacht, was dafür wichtig ist an Fähigkeiten & geistigen Grundlagen. Es ging am Freitag zum Abendessen los, ich bin allerdings erst Sonntag gegen Abend angekommen, so dass ich das Wochenende nur kurz anreisse. Am Samstag hat die Gruppe gemeinsam im Wald gearbeitet, der Sonntag drehte sich um das Thema Kooperation.

Der Montag stand, nachdem wir vormittags Äpfel geerntet hatten
Twens beim Äpfel pflücken
im Zeichen der Gewaltfreien Kommunikation (GfK) nach Marshall Rosenberg. Worum es dabei geht, erklärt am besten der Wikipedia-Artikel. Für die Woche war nach meiner Wahrnehmung am Wichtigsten, dass im Prozess der GfK die Selbsteinfühlung am Anfang steht. D.h. in einem Konflikt fühle ich mich zuerst in mich selbst ein, was jetzt gerade mein Bedürfnis ist.

Am Dienstag hatten wir ein ausgedehntes Forum. Das ist eine hier im ZEGG entwickelte Kommunikationsform, die in erster Linie dazu dient, innerhalb einer Gemeinschaft transparent zu machen was in den einzelnen Menschen vorgeht. Während der Twenzeit nutzten wir diese Form ausgiebig. Dabei kamen viele tiefe persönliche Themen zur Sprache, die sich ganz oft als weit verbreitet entpuppten. Das ist eine schöne Sache beim Forum: die Menschen merken, dass ihre Schwierigkeiten gar nicht ihre ganz individuellen Schwächen sind, sondern in vielen Fällen kulturelle Muster darstellen.
Durch den Nachmittag zur GfK angestossen, drehten sich viele Forumsauftritte um die eigenen Bedürfnisse (siehe auch mein letzter Beitrag hier). Manchmal fällt es gar nicht leicht, diese überhaupt wahrzunehmeen, geschweige denn mitzuteilen. Tut mensch's dann doch, fällt einem oft ein Stein vom Herzen, wird eine Last von einem genommen.
Ich habe bei meinem Auftritt verkündet, mich bis Ende diesen Jahres ganz auf mein Bedürfnis nach körperlicher Nähe zu konzentrieren & auf Beziehungen zu Frauen & auf Sex solange ganz zu verzichten. Sonst vermischt sich das schnell miteinander & macht alles viel zu kompliziert. Zum Jahreswechsel betrachte ich mir was sich bis dahin ergeben hat & entscheide daraufhin wie's weitergeht. Also ob ich diese Beschränkung noch ne Weile beibehalte oder ob sie bis dahin ihren Zweck erfüllt hat.

Das nächste Foto zeigt einen der allseits beliebten "Kuschelhaufen":
Foto entfernt auf Wunsch eines der Abgebildeten

Mittwoch haben wir uns zu Paaren zusammen gefunden & jeweils etwa drei Stunden hatte eineR davon eine Augenbinde um, die andere Person führte bzw. begleitete die blinde Person. Das erfordert einiges an Hingabe & Vertrauen. Es gab etliche witzige Begegnungen:
Foto entfernt auf Wunsch eines der Abgebildeten

sowie meditatives Beisammensein:
Blinde & Sehende am Feuer

Ich hatte dann entschieden das Experiment weiterzuführen & blieb noch bis Donnerstag nach dem Abendessen blind (seit Mittwoch Mittag). Dazu hatte ich mich schon morgens entschlossen, & es fühlte sich tatsächlich so an, als würde ich die letzten drei Stunden meines Lebens noch etwas sehen können. Ich spürte dabei ganz deutlich, dass ich nichts von dem festhalten kann, was ich mir ansehe. Das "Erblinden" hatte etwas Endgültiges. & ich glaube, da ist auch wirklich etwas in mir gestorben.

Früh am Morgen hatte ich begriffen, dass meine Angst (die bis heute in mir wirkt) irgendwann früher mal mein Wächter war, der mich beschützte. Ich spürte dieses beschützende Wesen meiner Angst. Sie hat mir einmal gut getan & ist lediglich nach getaner Arbeit nicht wieder gegangen sondern da geblieben. Sie will mir aber nichts Böses. Hmm, ich hoffe das ist jetzt verständlich was ich sagen will.

Als ich entschieden hatte, noch bis zum nächsten Abend blind zu bleiben, merkte ich ziemlich schnell, was eine meiner stärksten Ängste ist: die Angst die Kontrolle zu verlieren. "Meine Freiheit" bedeutete für mich bisher, dass ich selber mich kontrolliere & niemand sonst. Dass es auch ganz ohne Kontrolle gehen könnte, kam in meinem (unbewussten) Denken gar nicht vor.
Mittags sass ich am mit meinem Partner vereinbarten Treffpunkt & wartete, dass er vorbeikommt & mir die Augenbinde gibt, die er vormittags aufhatte. Dabei hatte ich tierische Angst vor dem, was nun auf mich zukommen würde. Als Blinder bist du ja weitgehend darauf angewiesen, dass andere dir helfen. Du kannst viel weniger selber auf eigene Faust machen.
Kaum hatte ich die Binde auf, war die Angst weg. Echt verrückt das.

Wir haben nachmittags zum Abschluss des Blindenexperiments die Eindrücke & Erfahrungen zusammen getragen, wobei es für mich natürlich nur ein Zwischenstand war. Abends sind wir in die Sauna gegangen, was blind echt sehr eindrücklich war. Die Sauna war auch der Grund, warum ich nachmittags mal kurz geschwankt habe ob ich das wirklich machen soll, aber ich hab's durchgezogen:
blinder Iromeister vor der Sauna

Der Donnerstag war ein ziemlicher Schwenk von den eigenen Themen hinaus in die grosse weite Welt. Wir beschäftigten uns mit der Frage, was jedeR einzelne dafür tun kann, dass es den heute lebenden Wesen & den kommenden Generationen besser geht als momentan. Welche Aufgabe habe ich in der Welt, wie setze ich meine Fähigkeiten ein, um das Leben aller Wesen zu fördern & nicht ihnen zu schaden?
Weil die meisten noch so nahe bei ihren eigenen Bedürfnissen waren (es ist in unserer Kultur ja schon ne Leistung, die eigenen Bedürfnisse offen & ehrlich anzuerkennen, ohne sich dafür zu verurteilen), kam deshalb nicht so viel Engagement zum Vorschein wie die GruppenleiterInnen erwartet hatten. Am Nachmittag führten wir deshalb ein sehr fruchtbares Gespräch, das das gegenseite Unverständnis klärte. Menschen funktionieren nun mal nicht nach Plan, & an dieser Stelle danke ich Teresa, François & Yvonne, dass sie so ehrlich & zugleich einfühlsam waren, dass der Tag doch noch eine gute Wendung nahm.

Nach dem Abendessen nahm ich meine Augenbinde wieder ab. In den 1½ Tagen blind sein wurde viel in mir aufgewühlt. Am stärksten empfand ich, dass die Menschen & Dinge mir näher gekommen sind, als ich nichts sehen konnte. Es gab nicht mehr diese Distanz, die sich beim Sehen so schnell in den Vordergrund drängt, die misst & vergleicht & ganz einfach alles voneinander trennt.
Aus dieser Erkenntnis heraus habe ich mir mehreres gelobt:
  • Ich gelobe, mich nicht mehr von mir selber, von den Menschen & den Dingen zu trennen.
  • Ich gelobe, immer wieder innezuhalten & in mich hineinzuspüren, & dem Raum zu geben was gerade da ist.

Das Zweite ist wichtig, habe ich gemerkt, als ich wieder sehen konnte. Da bin ich nämlich ganz unwillkürlich wieder viel schneller geworden. & zwar nicht graduell. Ich habe deutlich gespürt, dass schnell eine andere Qualität ist als langsam. Rein physikalisch ist der Unterschied gar nicht gross, doch wenn ich schnell bin, dann trenne ich mich von der Welt, verliere den Kontakt zu ihr. Es ist eine ganz andere Art sich zu bewegen.
Übrigens fiel mir heute dazu wieder mein Lieblingslied von Melanie ein: Close to it all.
Als eine praktische Konsequenz aus dem Innehalten werde ich meine Blog-Beiträge ab jetzt mit mindestens drei Tagen Verzögerung schreiben. So haben meine Texte genug Zeit zu reifen.

Kontakt

Jabber: iromeister@deshalbfrei.org
Skype: brich.die.regeln
Mail: rincewind_at_
ist-einmalig_punkt_de

Intro

Guten Tag FremdeR! Du bist hier beim Blog eines (Forschungs-) Reisenden zu Gemeinschaften & Kommunen gelandet. Unterwegs bin ich seit Ende Juli 2005, seit ca. Sommer 2006 inzwischen wieder sesshaft. Mehr über mich & mein Projekt erfährst Du im Startschuss-Beitrag. Darin erkläre ich auch, wie Du diesen Blog "bedienst"!
Im Beitrag Eine neue Kultur fasse ich meinen bisherigen Lebens-Schwerpunkt zusammen - darum geht es mir, nicht nur in diesem Blog.

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