Donnerstag, 13. Oktober 2005

Glauben versus Vertrauen

Im abschliessenden Kapitel des "sockenfressenden Monsters in der Wschmaschine" schreibt Christoph Bördlein einige bemerkenswerte Sätze:
Ein Ergebnis der bisherigen Forschungen zur Frage nach der Entstehung und Aufrechterhaltung paranormaler Überzeugungen ist, dass die Gläubigen im Schnitt ein höher ausgeprägtes Bedürfnis nach Kontrolle haben. In diesem Zusammenhang sind auch Unterschiede in der Ambiguitätstoleranz interessant. So bezeichnet man das Ausmass, in dem jemand unklare und vieldeutige Situationen ertragen kann. Die Ambiguitätstoleranz ist ebenfalls von Individuum zu Individuum verschieden: Die Anhänger paranormaler Überzeugungen haben tendenziell eine geringere Ambiguitätstoleranz als der Rest der Bevölkerung, Skeptiker eingeschlossen. Man könnte dies so interpretieren, dass sie sich eher als andere auf etwas festlegen müssen.
Viele paranormale Überzeugungen erfüllen den Zweck, ihren Anhängern wenn nicht Kontrolle, so doch wenigstens die Illusion von Kontrolle zu geben. Wenn ich weiss, dass "Fische" heute besonders vorsichtig sein müssen, kann ich mich auf eventuelle Missgeschicke einstellen. Auch die Fehler anderer sind leicht erklärt: "Der Mann ist Widder, die sind halt so bockig." Wer sowas wirklich glaubt, muss sich keine Gedanken über die möglichen wahren Ursachen des Verhaltens anderer machen [& sieht auch keinen Anlass sie nach Gründen zu fragen, Iromeister]. Auch besteht nicht die Gefahr, dass man eventuell bei sich selbst nach Fehlern suchen sollte.
Parawissenschaften haben fast immer eindeutige Antworten: Unbekannte Flugobjekte sind die Raumfahrzeuge Ausserirdischer. Wenn in einem Haus Gegenstände ohne erkennbaren Grund durch die Luft fliegen, dann war es ein Poltergeist. Sie liefern Erklärungen, wo Wissenschaftler zunächst schweigen und auf eine langwierige Untersuchung verweisen müssen, bei der am Ende auch kein hundertprozentig sicheres Ergebnis herauskommt. Für viele Menschen scheint das inakzeptabel. Sie möchten Sicherheit, nicht ein vages "vielleicht".
Skeptiker sein, heisst Unsicherheit ertragen können. Dadurch unterscheidet er sich auch vom Dogmatiker: Der nämlich glaubt zu wissen, dass das alles Quatsch ist und zwar ohne sich damit auseinanderzusetzen. Der Skeptiker hat niht immer gleich die Auflösung des Rätsels bei der Hand, er muss suchen und prüfen. Und selbst dann ist die Lösung nicht der Weisheit letzter Schluss. Der Skeptiker vermag dann nur die Wahrscheinlichkeit dafür, dass wirklich etwas Paranormales vorgefallen ist, besser einzuschätzen. Solange der Fall nicht untersucht ist, fällt er kein Urteil.
Sokrates war vielleicht der erste Skeptiker nach diesem Verständnis, denn er ging bei seinen philosophischen Untersuchungen immer davon aus: "Ich weiss, dass ich nichts weiss." Skeptiker stellen sich absichtlich dumm, damit sie sich nicht selber täuschen & meinen, sie wüssten die Antwort schon bevor sie den Sachverhalt geprüft haben.

Diese letzten Absätze aus dem Buch werfen ein neues Licht auf eine Frage, die sich mir derweil auch noch gestellt hatte: Wie hängen Glauben & Zweifeln einerseits mit Vertrauen & Misstrauen andererseits zusammen? Es stellt sich heraus, dass Glauben gerade von mangelndem Vertrauen bzw. Misstrauen zeugt, während Vertrauen den Zweifel aushält & sich dessen ungeachtet geborgen weiss. Wem es an Vertrauen fehlt, die/der versucht alles zu kontrollieren & eindeutig zu machen.
Die spannende Frage dabei: Lassen sich die Ambiguitätstoleranz & das Aushalten von Unbestimmtheit trainieren? Es sind dies beides nämlich extrem wichtige Voraussetzungen für eine wahrhaft freiheitlich-demokratische Gesellschaft.

Übrigens machen auch Wissenschaftler eine ganze Menge Fehler, weil sie als Menschen nun mal unvollkommen sind: Most scientific papers are probably wrong. Deshalb spielt das Peer-Review so eine grosse Rolle in der wissenschaftlichen Methode.
Wer des Englischen mächtig ist, dem empfehle ich als guten Einstieg in die Problematik die sci.skeptic FAQ.

Ich erwähne noch mal speziell das Tarot-Kartenlegen, weil das bei meinen FreundInnen einigermassen verbreitet ist. Erklären lässt sich die Wirkung durch den Barnum-Effekt. Weil die Botschaften des Tarot, wie im übrigen auch der Astrologie & eigentlich aller Arten von Hellseherei sehr allgemein gehalten sind, lassen sie sich leicht auf einen selbst beziehen.

Die Gefahren des Poststrukturalismus in der Linken

Christoph Bördlein hat mich in seinem Buch auf die Sokal-Affäre aufmerksam gemacht. Der (politisch linke) Physiker Alan Sokal hat 1996 einen Nonsens-Artikel in der Zeitschrift Social Text veröffentlicht, ohne dass die Herausgeber dies vorher bemerkt haben. Es genügte also offensichtlich, sich in der Ausdrucksweise an die oftmals völlig sinnentleerten (& dabei höllisch kompliziert zu lesenden!) Texte des PoststrukturalistInnen anzupassen, damit der Artikel als "wissenschaftlich" durchgeht.
Auf seiner Webseite hat Alan Sokal den Originalartikel sowie viele andere Kommentare von verschiedenen Seiten gesammelt. Besonders empfehle ich das Nachwort zu lesen, weil er darin erläutert, warum das poststrukturalistische Denken im Endeffekt systemstützend & damit reaktionär wirkt. Da diese weit verbreitete akademische Richtung einen erkenntnistheoretischen Relativismus vertritt, nimmt sie sich selbst (& ihren Anhängern!) die Möglichkeit kritisch zu hinterfragen. Wo es nur noch subjektive Wahrheiten gibt, kann ich den Wahrheitsgehalt von Aussagen nicht mehr kritisieren. Eine solche Haltung ist natürlich sehr bequem: Ich brauche nicht mehr mit Argumenten begründen was ich denke, sondern das ist halt meine persönliche Meinung & damit basta. Darauf kann ich mich prima ausruhen.
In der Politik heisst das jedoch, dass ich meine Interessen nicht mehr argumentativ durchsetzen kann. Ausserdem kann das Ergebnis jeder politischen Analyse einfach als nicht zutreffend abgelehnt werden. Recht hat letztlich wieder, wer die Macht hat. Aus diesem Grund war & ist das skeptische Denken, das von einer intersubjektiv gültigen Wirklichkeit ausgeht, anhand derer sich Aussagen überprüfen lassen, eine starke & wichtige Waffe jeder emanzipatorischen Bewegung. Von daher halte ich es für einen fatalen Fehler der Linken, dass sie dem poststrukturalistischen Relativismus aufgesessen ist. Das bedeutendste Werk dieser Richtung ist sicherlich Empire von Hardt & Negri.
Übrigens trifft diese Kritik den Radikalen Konstruktivismus, der ebenfalls in akademischen Kreisen & auch ausserhalb davon "in" ist.

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Guten Tag FremdeR! Du bist hier beim Blog eines (Forschungs-) Reisenden zu Gemeinschaften & Kommunen gelandet. Unterwegs bin ich seit Ende Juli 2005, seit ca. Sommer 2006 inzwischen wieder sesshaft. Mehr über mich & mein Projekt erfährst Du im Startschuss-Beitrag. Darin erkläre ich auch, wie Du diesen Blog "bedienst"!
Im Beitrag Eine neue Kultur fasse ich meinen bisherigen Lebens-Schwerpunkt zusammen - darum geht es mir, nicht nur in diesem Blog.

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