anarchistisch = menschenfreundlich, vor allem kinderfreundlich

Gerade lese ich in der aktuellen Ausgabe von "Natürlich lernen" den Artikel "Die Konsequenzen des Gehorsams für die Entwicklung von Identität und Kreativität" von Arno Gruen. Darin bringt er absolut auf den Punkt, wie Herrschaft (die ja darin besteht Gehorsam einzufordern) Menschen verkrüppelt. In den jüngsten Kindheitstagen wird in den meisten Familien unserer Kultur der Grundstein dafür gelegt. Lange Zeit fand ich mich in dem Lied Self Bias Resistor von Fear Factory wieder, mit der Zeile "They have tried to break you" ("Sie haben versucht dich zu brechen"). Natürlich blieb ich damit noch in der Rolle des Rebellen & damit des Opfers stecken. Diese Phase war wichtig, um in mir die Kraft zu finden meinen eigenen Weg zu gehen; zuerst musste ich mich weigern zu tun was andere von mir verlangten. Dadurch bekam ich den Freiraum um herauszufinden was ich wirklich, wirklich will.
Ja, an dieser Stelle wird deutlich, dass Frithjof Bergmanns Anliegen genau in die gleiche Richtung zielt: Wenn die Menschen von Geburt an das tun dürfen, was sie wirklich, wirklich wollen, wird Herrschaft & Gehorsam überflüssig - & mit ihnen all die grausamen Folgen die unsere Kultur so lebensfeindlich machen.

Ich verstehe Anarchismus schon seit längerem weniger als politische Haltung, die sich gegen Herrschaft & damit nach außen richtet. Für mich heisst Anarchist sein in erster Linie Ich werde niemanden beherrschen - mich selbst auch nicht. Auf Kinder bezogen heisst "beherrschen" "erziehen", & Anarchie entsprechend Nichterziehung.

Zur Veranschaulichung des direkten Zusammenhangs ein Zitat:
Die Eigenschaften, die Eltern ihren Kindern am meisten zuschreiben, sind Unsauberkeit, Unreinheit, Gier, Unstetsein, Zerstörungswut. Kinder sind, auch Freud sah es so, unersättlich in ihrem Trieb, stets darauf erpicht, dem Lustprinzip zu folgen. Es sollte uns hellhörig machen, dass es genau dieselben Eigenschaften sind, die dem gehassten Fremden - ob Jude, Zigeuner, Chinese, Katholik, Kroate, Serbe, Tschetschene, Kommunist usw. - immer wieder unterstellt werden.

Vor allem wir Männer haben von klein auf gelernt, unsere Gefühle zu verleugnen ("ein Indianer kennt keinen Schmerz"). Damit sind wir von unserem Wesenskern abgeschnitten & für die Bildung unserer Identität auf äussere Vorbilder angewiesen. Im Extremfall kumuliert das zu Massenphänomenen à la "Führer befiehl, wir folgen dir", aber der normale Wahnsinn unserer Leistungsgesellschaft funktioniert genauso. Der Staat muss deshalb fast gar nicht mehr auf Gewalt zurückgreifen: in der Familie als "Keimzelle des Staates" (tatkräftig unterstützt durch die Zwangsveranstaltung Schule) wird Herrschaft durch diesen Mechanismus wie von selbst reproduziert. Die Gesundheit der Menschen (mindestens mal die seelische) bleibt dabei auf der Strecke, oder kurz gesagt: Herrschaft macht krank. & zwar nicht nur die einzelnen Menschen, sondern die ganze Gesellschaft.

Fangen wir also umgehend mit der Therapie an: Freies Kinderaufwachsen!
Benni aka Trundilson (Gast) - 2007-03-18 01:07

wista wista viva anarchista

"ein Indianer kennt keinen Schmerz" - er kennt ihn schon, aber er wird unfähig, ihn anderen mitzuteilen oder darüber zu reden, weil Schwäche zeigen gilt nicht. Was aber wenn er er selbst seinen Schmerz nicht lindern kann?

"Herrschaft macht krank." Tja es gibt wohl kein richtiges Leben im Falschen. Also das richtige im Richtigen leben. Dazu muss aber "das Richtige" erstmal entstehen.

Die Therapie könnte auch Anarcho-Syndikalismus heißen.

Aber wenn ich mich selbst als Anarchist begreife, alle anderen aber also Obrigkeitshörig bzw. Herrschaftsverliebt diffamiere - fange ich an, eine Abneigung gegen die meisten meiner Mitmenschen zu entwickeln!? Bin also nicht per se menschenfreundlich.

Anarchistische und solidarische Grüße aus Gießen,

c u Benni

(wista = widerstandsaussschuss)

iromeister - 2007-03-26 20:31

wer als Anarchist andere diffamiert, ist gar keiner

Der Anarcho-Syndikalismus baut Alternativen zu Herrschaft v.a. in der Wirtschafts- & Arbeitswelt auf. Nichterziehung heisst dass Kinder ohne Herrschaft aufwachsen. Beides ist wichtig, & vieles andere mehr: in allen Bereichen des Lebens ausprobieren wie es ohne Herrschaft geht (& feststellen dass es besser geht ;-).
Mir liegt es besonders am Herzen, die Entstehung von Herrschaft & Gehorsam an der Wurzel zu verhindern, eben indem ich zunächst mal meine eigenen Kinder nicht erziehe & mich weiterhin dafür einsetze, dass möglichst viele andere Menschen das auch nicht mehr tun.

Mir kommt gar nicht in den Sinn, andere zu diffamieren oder ihnen auch nur vorzuwerfen dass sie sich nicht gegen Herrschaft auflehnen. Dahinter steckt ein tiefer Schmerz & Angst, worüber eben auch Arno Gruen in dem Artikel schreibt. Auf der anderen Seite sind auch die Herrscher in einer Herrschaftsbeziehung keine bösen Menschen, sondern aufgrund ihrer persönlichen Geschichte & den sozialen Umständen in diese Position gekommen. Wenn ich sage "Herrschaft macht krank" versuche ich genau das zu vermitteln: es tut einfach niemandem gut, weder den Beherrschten noch den Herrschenden.
& es ist schwer da rauszukommen, verbunden mit emotionalen Stürmen, (Selbst-) Zweifeln, Schuldgefühl usw. usf. Bloss wenn ich nicht bei mir selber ansetze, also "gegen Herrschaft" bin aber den Beherrscher/den Untertan in mir selbst nicht wahrhaben will, wird kein Anarchismus draus.
Ich hatte mal als Motto "Gehe immer davon aus, dass du im Unrecht bist", was auch heute noch aktuell ist. Oder wie Marshall Rosenberg so treffend fragt: Willst du Recht haben oder glücklich sein?
Wenn ich von mir sage, ich will niemanden beherrschen, dann rede ich damit ausschliesslich von mir selber. Es wäre ja auch absurd, das von anderen genauso zu erwarten, denn dann liesse ich ihnen genau die Freiheit nicht, die ich ihnen doch lassen will. Ich muss deswegen ja nicht gut finden was sie tun. Für mich ist ein Grundsatz, dass alle Menschen in ihrem Kern gut sind. Deshalb verurteile ich niemals Menschen, sondern konkret etwas das sie tun, was mir nicht gefällt. Jedenfalls strebe ich das an, es gelingt mir oft nicht & dann vermische ich die Person mit dem wie sie sich verhält.
carsten (Gast) - 2007-03-23 13:02

Kinder brauchen Grenzen

"Ein Indianer kennt keinen Schmerz" das heißt er kenn ihn sehr wohl, doch er kann den Schmerz seinem Willen unter ordnen. . Der Triumpf des Geistes übder den Rflex oder den Trieb. Die hohe Kunst der Selbstbeherrschung im positven Sinne. Der Geist ist stärker als das Fleisch. Das ist für mich ein Bild der Menschwerdung und nun gar kein Bild für ein einseitiges Männer oder Kinderbild in unsere Kultur. Ich finde eure Perspektive ideologisch und einseitig.

Kinder brauchen Grenzen und Gebote, sowie sie Freiräume und Selbstverwiklichung brauchen. Auf Erden entfaltet sich Ernergie wenn sie in begrenzten Räumen auf Widerstände trifft, ansonsten verpufft die Energie in der Entropie. Grenzen und Gebote können auch Räume schaffen in denen Kinder ihre Kindsein ausleben und ihre Persönlichkeit entdecken können. Diese Räume zu schaffe ist ein wichtiger Teil der Elterlichen Liebe. Und das kann auch bedeuten Gebote auf zu stellen, die das Kind aus seiner kindlichen Persektive noch nicht begreifen kann. Dann ist es nur legetim die Elterliche Autorität zu nutzen diese Gebote durch zu setzen. Das hat aber noch lange nichts mit Herrschaft zu tun, noch rechtfertigt es Kindern körperliche oder psychische Gewalt an zu tun. Kinder welche diese Grenzen nicht erfahren haben, leiden ihr Leben lang unter dem Gefühl nicht anerkannt und gesehen zu werden. Sie werden ihr leben lang das Gefühl nicht los nicht geliebt zu werden.

Nur weil jemand es Beispiele von regieder Peversion von Geboten und Grenzen gibt, sind Grenzen und Regeln perse gleich Herrschft. Gesetzlosigkeit ist auch perse nicht gleich Barbarei. Und Herrschaftslosigkeit perse Anarchismus.

Timo du argumentierst ungemein Ideologisch. Mir fehlt da völlig die Weitsicht, die ich von dir kenne. Die Welt ist vielseitiger und komplexer, als dass du die aus ideologischer Perspektive auch nur annähernd erfassen könntest.

Diese Ideologie erscheint mir doch oft als ein Mittel, um die unbergreifliche Verletzung die man erfaheren hat, begreifbar zu machen. Die Ideologie ordnet die verworrene Gefühle von Hass, Liebe, Verletzung und Enttäuschung in Täter und Opfer, Recht und Unrecht, Richtig und falsch. Diese Kategorien sind jedoch unzureichend, wenn es um ein tiefes Verständnis geht und zur Aussöhnung und Verarbeitung taugen sie allemal nicht. Wenn du ideologisch siehst dann sei dir bewußt, dass die Ideologie nur eine Brille sein kann welche dir persönlich hilft das unansehnliche an zu schauen. Wenn du die Welt so sehen willst, wie sie ist, dann musst du die Brille abnehmen.

Und was Anarchosyndikalismus, also eine anarchistische Organisation von Lohnabhängigen mit Kindererziehung zu tun hat ist mir erst Recht schleierhaft.

Alles Gute Carsten

iromeister - 2007-03-26 22:36

Kinder brauchen Erwachsene, die ihre eigenen Grenzen wahren

"Kinder welche diese Grenzen nicht erfahren haben, leiden ihr Leben lang unter dem Gefühl nicht anerkannt und gesehen zu werden. Sie werden ihr leben lang das Gefühl nicht los nicht geliebt zu werden."
Hmm, gerade dieses Gefühl entsteht nach meiner persönlichen Erfahrung daraus, dass Eltern den Willen ihrer Kinder nicht anerkennen. Du fühlst dich nicht richtig in dem was du willst, weil deine Eltern in vielem einfach über dich bestimmen. Dadurch entsteht der Eindruck nicht anerkannt & gesehen zu werden.
Zugleich wahren Eltern, vor allem Mütter, oft aus einem Schuldgefühl heraus ihre eigenen Grenzen dem Kind gegenüber nicht. Dabei kommt eine laissez-faire-Pädagogik heraus, die dem Kind alles erlaubt & sich im Gegenzug aber viel zu wenig um seine Bedürfnisse kümmert. Das ist übrigens das was oft fälschlicherweise unter antiautoritärer Erziehung verstanden wird.

Die Aussage "Kinder brauchen Grenzen" ist mir zu ungenau, weil sie zwei völlig entgegengesetzte Dinge meinen kann:
  • Die Erwachsenen setzen den Kindern Grenzen
  • Die Erwachsenen wahren den Kindern gegenüber ihre eigenen Grenzen
Ich argumentiere auch überhaupt nicht gegen Regeln an sich. Mir geht es darum, wie diese Regeln zustande kommen. Herrschaft/Erziehung bedeutet, dass eine Gruppe die Regeln festlegt, an die sich dann eine andere Gruppe halten muss. Dagegen spreche ich mich aus. Auch mit Kindern lassen sich Regeln aushandeln, da trauen wir ihnen oft viel weniger zu als wozu sie tatsächlich in der Lage sind. Siehe www.unerzogen.de. & wenn es um Strassenverkehr oder Steckdosen geht, ist mir klar dass Erwachsene solche Situationen entschieden besser einschätzen können als Kinder. Doch auch dabei lehrt mich die Erfahrung, dass Kinder (wie alle Menschen) ganz automatisch rebellieren, wenn sie Regeln einfach so vorgesetzt bekommen; ganz egal wie sinnvoll die Regel von der Sache her sein mag. Das Autonomiebedürfnis ist ein sehr elementares Bedürfnis, "gesunder Menschenverstand" ist ihm nachgelagert.

Deinen Satz "Auf Erden entfaltet sich Ernergie wenn sie in begrenzten Räumen auf Widerstände trifft, ansonsten verpufft die Energie in der Entropie" kann ich bestätigen, aber auch hier gilt: Mir sind selbst gewählte Widerstände (=Herausforderungen) lieber als von aussen auferlegte. Sicher, wachsen kann ich an beiden, aber wenn es ohne Zwang geht ist es doch viel schöner!
In dem Sinne kann ich auch den Triumph des Geistes als eine besondere Errungenschaft von uns Menschen sehen - solange es nicht in zwanghaftes Unterdrücken von Gefühlen & Trieben geht. Der Grat ist schmal, nur Bewusstheit hilft uns zu unterscheiden was jeweils angemessen ist.
Zum Beispiel halte ich mich den Kindern gegenüber oft zurück wenn ich sauer bin, weil sie meist nur etwas bei mir ausgelöst haben oder mich schon etwas ganz anderes angetickt hat. Erwachsene können so etwas besser ab, & ich will nicht meine ungelösten Konflikte auf dem Rücken der Kinder austragen. Umgekehrt bemühe ich mich, ihre "negativen" Gefühle wie Wut oder Trauer anzunehmen & nicht aus eigener Verletzung heraus in eine Abwehrhaltung zu geraten. Denn genau das führt dazu, dass die bestehenden Strukturen von Genereration zu Generation weitergegeben werden.

Ich empfehle an dieser Stelle noch mal den Artikel von Arno Gruen zu lesen, der macht sehr deutlich worum es mir geht.


Danke an dieser Stelle an Carsten & Benni für Eure Kommentare! Ihr habt mir geholfen meine Gedanken zu präzisieren.


P.S.: Bestätige mich doch bei XING mal als Kontakt, oder spricht da irgendwas dageben?
moca (Gast) - 2007-03-28 20:36

japp!

es macht spaß ab und an mal gedanken zu lesen, die sich weitgehend mit den eigenen decken.

kinder haben eine eigene kultur und zwar eine erziehungsfreie. wenn mensch offen ist das wahrzunehmen kann er jedemenge wiederlernen.

seit ich vor etwa 10 jahren "freiheit pur" von horst stowasser gelesen habe, bin ich der meinung, dass kinder als anarchisten geboren werden :)

vielleicht hast du, iromeister, ja lust, mit deiner family zum unverdient-und-unerzogen-treffen zu kommen? info hier:
http://unverdient.de/uv/pmwiki/index.php?n=Unverdient.AktuElles

iromeister - 2007-04-11 12:39

leider schon ausgebucht

Hallo moca, danke für den Hinweis, ich würde auch liebend gerne da hinfahren, wir sind allerdins an dem Wochenende schon ausgebucht. :-(
Berichte ausführlich in der unerzogen-Liste, damit ich wenigstens nachträglich daran teilhaben kann!

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Guten Tag FremdeR! Du bist hier beim Blog eines (Forschungs-) Reisenden zu Gemeinschaften & Kommunen gelandet. Unterwegs bin ich seit Ende Juli 2005, seit ca. Sommer 2006 inzwischen wieder sesshaft. Mehr über mich & mein Projekt erfährst Du im Startschuss-Beitrag. Darin erkläre ich auch, wie Du diesen Blog "bedienst"!
Im Beitrag Eine neue Kultur fasse ich meinen bisherigen Lebens-Schwerpunkt zusammen - darum geht es mir, nicht nur in diesem Blog.

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