Dienstag, 7. März 2006

Drei Monate Lebens(t)raum-Gemeinschaft Jahnishausen

Heute früh habe ich nach ziemlich genau drei Monaten die Lebens(t)raum-Gemeinschaft Jahnishausen wieder verlassen. Diesen Text schreibe ich jetzt einige Wochen im Nachhinein, es ist eine ganze Menge passiert zwischendurch & endlich finde ich mal die Ruhe, ein - wie immer sehr persönlich geprägtes - Resümee meiner Zeit in der Lebens(t)raum-Gemeinschaft zu verfassen.

Wer regelmässig über die Gemeinschaft auf dem Laufenden gehalten werden will, kann sich die Freundeskreis - Rundbriefe herunterladen oder zumailen lassen.


Ganz handfest habe ich in den beiden Treppenhäusern eine ganze Menge Decken & Wände weiss gestrichen, zum Verputzen üben bin ich gar nicht mehr wirklich gekommen. Einige Menschen aus der Gemeinschaft habe ich unterschiedlich intensiv am PC unterstützt, z.B. die wirklich fiese Spyware Smitfraud rausoperiert & mich ein wenig in TYPO3 eingearbeitet.
Bei der Holzaktion (sägen & spalten für Brennholz) & dem Kohlen hochschleppen war ich immer wieder dabei, für meinen eigenen Ofen tat ich das regelmässig.

Auch in die "inneren" Prozesse der Gemeinschaft konnte ich tiefer einsteigen, war regelmässig bei Forum & Orga dabei & hatte auch viele Gelegenheiten für persönliche Gespräche. Mir ist in den drei Monaten bewusst geworden, dass eine Gemeinschaft ein höchst komplexes soziales Gebilde ist. Gedacht hatte ich mir das natürlich vorher schon; jetzt habe ich es aber mit Leib & Seele erlebt.
Übrigens habe ich mich dadurch von der Vorstellung verabschiedet, ich könnte hier in diesem Blog eine Sammlung von "Rezepten" für den Gemeinschaftsaufbau zusammentragen. Weil jede Gemeinschaft etwas ganz Eigenes ist, kann es keine solchen Rezepte geben. Das Höchste der Gefühle sind Werkzeuge, die eine Gemeinschaft ggf. für den eigenen Bedarf modifizieren kann.


Ich habe mich in Jahnishausen die meiste Zeit bis auf die Tage kurz vor Weihnachten sehr wohl gefühlt. Ebenso habe ich den Ort & die Gemeinschaft als ein gutes Umfeld fürs persönliche Wachsen erlebt. Das ist nicht immer leicht; für mich daher genau richtig, weil ich Herausforderungen liebe.
Das macht für mich das Wesentliche an der Gemeinschaft Jahnishausen aus: dass die Menschen dort an ihren Themen arbeiten & dran bleiben, sowohl ganz persönlich als auch die Gemeinschaft betreffend. Mich hat diese (oft sehr herzliche) Beharrlichkeit beeindruckt.


Als Abschiedsgeschenk habe ich den Menschen in der Gemeinschaft eine lange Mail geschickt, von der ich diejenigen Auszüge hier veröffentliche, von denen ich glaube, dass sie auch für andere Menschen in anderen Gemeinschaften interessant sein können:

"Hausaufgaben" für die Menschen in der Lebens(t)raum-Gemeinschaft Jahnishausen



Ganz zufrieden mit der Bezeichnung "Hausaufgaben" bin ich nicht, es klingt so oberlehrerhaft, was es gar nicht sein soll. Was ich hier im Folgenden für Euch schreibe, sind schlicht & ergreifend Beobachtungen & sich daraus ergebende Empfehlungen. Es ist wie mit den Spiegeln im Forum: Ich gebe Euch das hier als Geschenk, was jedeR einzelne damit tut, ist seine/ihre Sache. (Spiegel zum Spiegel sind willkommen!)

Weil eine meiner Empfehlungen lautet "Hör genau hin, wenn von 'der Gemeinschaft' die Rede ist!" rede ich Dich von hier an persönlich an & nicht mehr "Euch". Letzten Endes besteht jede Gemeinschaft aus einzelnen Menschen, die sich entschieden haben gemeinsam zu leben. Das unterscheidet eine Gemeinschaft von einer Masse.

Ich fange an mit dem Punkt, der mir selbst am wichtigsten erscheint:

Stell Machtfragen!

Wer hat tatsächlich wo das Sagen, wem gesteht die Gruppe bei welcher Gelegenheit welche besonderen Befugnisse zu? Wer hat wann das letzte Wort?

& dazu gehörig:

Kläre Fachkompetenzen!
Wer hält wen in welchem Bereich für fachlich kompetent?

Dabei geht es nicht darum, irgendwen zu demontieren. Es kann ja genau richtig sein, dass Person X Aufgabe Y übernimmt. Ich halte es lediglich für extrem wichtig, ja geradezu überlebenswichtig, dass in diesen Fragen Klarheit herrscht.
Offene Hierarchien sind unendlich viel besser als heimliche Hierarchien.

Dass Machtfragen stellen & Machtpositionen hinterfragen unbequem ist, schreibt auch Christoph Spehr in "Gleicher als andere. Eine Grundlegung der freien Kooperation":
"Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was keinem anderen schadet." (Art. 2 der Erklärung der Menschen- & Bürgerrechte von 1791) Nun müssen Menschen einander aber unter Druck setzen & mitunter schaden, um die Verhältnisse untereinander zu verändern, Herrschaftsverhältnisse zu transformieren, sich zu befreien. Die Freiheit, die niemand anderen kratzt, niemand anderem wehtut, ist eine "Freiheit", die die gesellschaftlichen Verhältnisse einbalsamiert, konserviert wie sie sind - was das Gegenteil von Freiheit ist.

Stellst Du Regeln über Menschen, oder dienen die Regeln den Menschen & haben genau dann ausgedient, wenn sie das eben nicht mehr tun?

Ganz konkret wünsche ich mir, dass vor Gesprächen ganz klar eine Gesprächsleitung benannt wird. Das kann immer jemand anderes sein, wichtig ist dass alle wissen wer dieses Gespräch leitet! Ich hab immer wieder Unklarheit erlebt, wegen der einzelne Wortmeldungen übersehen wurden.

Schärfe Deine Sinne für dasjenige & diejenigen, die zu kurz kommen!

Bei all dem ist die Voraussetzung, dass Du das wirklich willst - es ist ein anspruchsvoller Entwicklungsweg. Geh mal in Dich & spüre ob Du bereit bist, Dich auf solche Prozesse einzulassen. Ist das nicht der Fall, dann ist es auch nicht schlimm, nur solltest Du Dir darüber klar sein & das auch so kommunizieren. Sonst gibt's ein schlechtes Gewissen & das Gefühl von Gruppendruck.
Äussere Klarheit gepaart mit innerer Klarheit also.


Eng mit den Machtfragen hängt das Konsensprinzip zusammen. Darüber schreibt Wolfgang Berger, ein Unternehmensberater (!):
Autorität erdrückt ein Team und macht alle außer der Autoritätsfigur zu Statisten. Auch Mehrheitsentscheidungen wirken als Sprengsätze. Wenn Mehrheitsentscheidungen etwas mit Demokratie zu tun haben, dann darf ein Team keine demokratische Veranstaltung sein; aber sie haben eigentlich nichts mit Demokratie zu tun. Die Bürger im klassischen Athen, die diese Staatsform entwickelt haben, besprechen ihre politischen Angelegenheiten auf der Agora (dem Marktplatz) solange, bis eine Übereinkunft erzielt ist. Wahlen, bei denen sich die Mehrheit durchsetzt, sind das Ende der Demokratie und der Anfang der Diktatur - einer Diktatur der Mehrheit, bei der die Menschen nicht mehr zuhören müssen, um sich zu einigen.
Die überstimmte Minderheit wird durch die Niederlage in ihrem Selbstwert getroffen und identifiziert sich nicht mit dem Ergebnis. [...]
Wenn Sie zur Mehrheit gehören, müssen Sie mit der Möglichkeit rechnen, dass die Minderheit recht hat, auch wenn sie nur aus einer einzigen Person besteht.
[...]
Wenn es aber bedeutsam ist und vom Gelingen einiges abhängt, wenn es darum geht, die beste aller möglichen Lösungen zu finden, dürfen Sie eine Entscheidung erst fällen, wenn auch der letzte einverstanden ist. Blockadeverhalten ist damit nicht gedeckt. Wer blockiert, intrigiert auf der Beziehungsebene. Das Problem muss auf dieser Ebene gelöst werden, notfalls auch durch Trennung. Wenn ein Team aber Zweifel als Blockade definiert und den leichten, schnellen Weg wählt, wird es seine Aufgaben nicht gut lösen können und stellt sich selbst in Frage.


Ich betone nochmal, das schreibt ein Unternehmensberater. Hier geht's um knallhartes Business. & selbst dort begreifen immer mehr Menschen, dass Konsens bei wichtigen Entscheidungen das einzig Wahre ist.

Aus dem Konsens-Buch (eine sehr nützliche Investition für Gemeinschaften) habe ich etliche Seiten kopiert, worauf ich hiermit noch mal hinweise.
Kurzes Zitat:
Konsensverfahren sind besonders dann anzuwenden, wenn es um die Identität einer Gruppe geht. Ebenso & damit eng verwandt, bei allen Fragen, die für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft wichtig sind. & drittens dort, wo es auf die Handlungsfähigkeit einer Gruppe ankommt.


Unterscheide sachliche Ebene & Beziehungsebene! Es ist in Ordnung, wenn jemand eine andere Person nicht leiden kann. Solange es sich um Einzelne handelt, bricht davon die Gemeinschaft nicht auseinander. Das Leben wird sogar leichter, wenn so etwas ausgesprochen ist.


Ehrlichkeit beginnt damit, ehrlich zu sich selbst zu sein - & das ist oft am Schwersten.

Immer wieder innehalten, tief durchatmen!
Nach meiner Erfahrung sehr wertvoll: Demut & loslassen können.

(nur zur Erinnerung, falls meine Sprache nach Befehlston klingt: ich schreibe hier Empfehlungen, die Du bedenken kannst aber nichts damit tun musst)


Schau mal nach Deinen Süchten (Buchempfehlung: Anne Wilson Schaef/Diane Fassel: Suchtsystem Arbeitsplatz)!


Bei der Intensivzeit hatte ich mir ja schon etwas gewünscht, das mir in Jahnishausen sehr fehlt:
Einen gemütlichen Abhäng-Raum als informellen Treffpunkt!
Sowas wie die Fachschaftscafés in der Uni, Axels Internetcafé im ZEGG oder das Wohnzimmer in meiner alten WG. Wichtigster Einrichtungsgegenstand: ein grosses gemütliches Sofa. Im Sommer könnt Ihr das ja in die Remise stellen :-D
Es lebe die Sofakultur!


Ebenfalls in der Intensivzeit fiel mir etwas ein, das für Euch total super sein kann: Radikale Therapie. Davon habe ich das erste Mal im KommuneBuch gelesen, die Kommune Feuerland macht das regelmässig & ihren Text aus dem Buch gibt's online: http://www.htu.tugraz.at/mrt/rt-text.pdf
Übrigens ist das KommuneBuch echt super, & es steht sogar schon bei Euch in der Bibliothek!


& falls das nicht schon genug deutlich wurde empfehle ich nun noch einmal explizit Christoph Spehrs Text "Gleicher als andere".


Ich schliesse mit meinem bisher tiefsten Lebensmotto:
Wenn Dein Herz die ganze Welt umarmt,
dann können Deine Hände alle das loslassen,
woran Du Dich so ängstlich festgeklammert hast.


In Liebe,
Timo
In dieser Mail ist nicht allzuviel Lob drin, weshalb der Text den Eindruck erwecken könnte, ich hätte ganz viel an der Gemeinschaft auszusetzen. Dem ist nicht so! In Gemeinschaft leben ist eine schwere Aufgabe, & wer erwartet dass da alles rund läuft, erwartet eindeutig zu viel. In Gemeinschaft leben heisst andauernd lernen, nicht damit aufhören, immer offen bleiben & bereit sein sich zu ändern, sich auf die Prozesse in der Gemeinschaft einlassen.
Mit meinen Beobachtungen & Empfehlungen will ich diese Prozesse unterstützen. Als letztlich doch Beobachter von aussen - ich bin schon recht tief eingetaucht, aber eben doch nur als Gast - nehme ich manches wahr, was den Menschen in der Gemeinschaft so selbstverständlich erscheint, dass es ihnen gar nicht mehr bewusst ist, & dafür übersehe ich ganz viel anderes.
Den Grund weshalb ich meine Wahrnehmungen dennoch mitteile, beschreibt Wolfgang Berger so:
Wer sich nicht mitteilt, liefert anderen keinen Beitrag, und wer anderen keinen Beitrag liefert, ist ein Schmarotzer.
In diesem Sinne ist das hier mein hauptsächlicher Beitrag für die Lebens(t)raum-Gemeinschaft Jahnishausen. Er ist, wie wohl unschwer zu erkennen, stark geprägt durch meine wieder entdeckte & wesentlich vertiefte anarchistische & linksradikale Überzeugung.

Ich grüsse Euch ganz herzlich da drüben im Jahnatal!

Kontakt

Jabber: iromeister@deshalbfrei.org
Skype: brich.die.regeln
Mail: rincewind_at_
ist-einmalig_punkt_de

Intro

Guten Tag FremdeR! Du bist hier beim Blog eines (Forschungs-) Reisenden zu Gemeinschaften & Kommunen gelandet. Unterwegs bin ich seit Ende Juli 2005, seit ca. Sommer 2006 inzwischen wieder sesshaft. Mehr über mich & mein Projekt erfährst Du im Startschuss-Beitrag. Darin erkläre ich auch, wie Du diesen Blog "bedienst"!
Im Beitrag Eine neue Kultur fasse ich meinen bisherigen Lebens-Schwerpunkt zusammen - darum geht es mir, nicht nur in diesem Blog.

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