Auschwitz - Ausdruck einer lebensfeindlichen Kultur
Bericht vom Zen-Retreat im Lager Auschwitz und Birkenau (26.04. bis 01.05.2002, mit Wolfgang Buchhorn)
Vor dem Versuch, einen roten Faden zu finden, eine Linie, an der entlang ich meine Erfahrungen in dem Lager schildern kann, wo vor sechzig Jahren Anderthalb Millionen Menschen industriell ermordet wurden, kapituliere ich. Allein schon diese Zahl sprengt jede (Ab-) Geschlossenheit, widersetzt sich jedem Begreifen.
Was ist Meditation? Und warum Meditieren ausgerechnet in Auschwitz? Es geht (zumindest im Zen) darum, wahrzunehmen was ist, das genaue Gegenteil von einem Rückzug in sich Selbst. Wobei sich Selbst wahrzunehmen natürlich dazugehört. Nichts soll ausgeklammert werden.
Das bedeutet in Auschwitz in erster Linie, sich dem zu stellen, was dort geschehen ist. Nicht nur blosses Ansammeln von Fakten, von Wissen. Ohne geht es wohl kaum, doch entscheidend ist, sich auf die Ereignisse der Vergangenheit einzulassen, eine Verbindung zu suchen. Auch zum Auschwitz von heute.
Anderen davon mitzuteilen, die nicht an diesem Ort waren und sich auf diese Weise damit befasst haben, wird nur sehr bruchstückhaft gelingen; genauso bruchstückhaft wie mein Einblick in das vergangene Grauen. Ein Verb, das auf die Geschehnisse passt, ist mir bis heute nicht eingefallen. Was die Nazis ihren Opfern »angetan« haben – nein, das reicht überhaupt nicht hin. Wenigstens ein Adjektiv habe ich gefunden: monströs.
Als einziger Gedanke zog sich durch meinen gesamten Aufenthalt, solche Monströsitäten sind nur möglich in einer Kultur, die das Leben mit der grösstmöglichen Kraft verneint und verkehrt. Das haben wir doch alle gemein, mit allen Bakterien, Tieren, Pilzen, Pflanzen: wir leben. Kein anderes Lebewesen ist überhaupt fähig zu dem, was Menschen in Auschwitz auf die Spitze getrieben haben: Leben wegzuwerfen. Alle anderen Lebewesen (ausgenommen domestizierte Tiere) töten nur, um Selbst weiterzuleben. Oder um das Leben ihrer Kinder bzw. Gefährten zu bewahren. Einzig wir Menschen haben das Töten zum Selbstzweck gemacht.
Gefangen zu sein – das war mein erster Eindruck. Und mit ihm der erste Widerspruch. Zwischen den beiden Reihen Elektrozaun entlangzugehen, die das Stammlager umgeben. Jederzeit links oder rechts zwischen den Betonpfeilern hindurchgehen zu können. Damals stellte der Zaun für die Gefangenen eine unüberwindliche Barriere dar; oder auch die Gelegenheit, ihrem Leiden vorzeitig ein Ende bereiten zu können. Viele warfen sich verzweifelt in den Zaun. Alles erschien ihnen leichter als so weiterzuleben. Womit habe ich das Privileg verdient, heute dort kommen und gehen zu können wie mir beliebt?
Dabei ist es der Göttin sei Dank kein Privileg, sollte für alle Menschen, alle Lebewesen selbstverständlich sein. Weshalb ist es ein Privileg, mich frei bewegen zu können, so muss die Frage lauten. Eine der vielen Fragen, die Auschwitz an mich stellte. Mir stellte, damit ich gemeinsam mit den Verantwortlichen der Welt (die allzuoft zutiefst unverantwortlich handeln) sie beantworte durch unser Tun. Indem wir eine Welt ohne Stacheldrahtzäune schaffen.
Neben den Verzweifelten gab es selbst hier, am Ort des Schreckens, wo die menschliche Kultur unendlich flach geworden ist, Hoffnung. Das B in dem Spruch »Arbeit macht frei« hatten die Arbeiter auf dem Kopf eingebaut als Zeichen des Widerstands. Sie kämpften darum, sich ihre Würde zu bewahren. Die kleinsten Dinge waren von unschätzbarem Wert. Das sind sie immer; diese Lehre gilt es in Zeiten des Wohlstands und der relativen Freiheit zu bewahren. Wer die kleinen Dinge nicht schätzt, hat keine Achtung vor Grossem. Denn das Leben umfasst alles von der kleinsten Mikrobe bis zum gesamten Erdball.
Die Ausstellungen der geraubten Gegenstände sind ein Mahnmal für das, was passiert wenn der Kapitalismus bis an sein logisches Ende getrieben wird. Menschen als Ware. Einen ganzen Raum voller Haare gibt es im Museum im Stammlager. Teppiche haben sie daraus gemacht. Berge von Schuhen. Die Beute eines einzigen Tages. Fabriken verarbeiteten sie zu Kunstleder. Mit heimlich eingesteckten Goldzähnen bestachen Arbeiter des Sonderkommandos die SS-Männer. Um Menschen auf so eine Weise zu »verwerten«, muss ein Mensch vom Leben gänzlich abgetrennt sein. Anders liesse sich der Schmerz des Mit-Fühlens, des Mit-Leidens gar nicht ertragen.
Wir sind heute immer noch weitgehend abgestumpft, wenn auch sicher nicht in einem Ausmass wie die SS. In Rom »amüsierte« sich das Volk mit »Spielen«, bei denen Menschen aufeinander gehetzt wurden zum tödlichen Kampf. Wir sehen uns mit heimlicher Begeisterung Big Brother an. Bei diesem Bild werden Gemeinsamkeiten wie Unterschiede deutlich. Wohin die Richtung weist, hin zu einer lebensbejahenden Kultur oder erneut zu einer (Un-) Kultur der Missachtung des Lebens, das ist die entscheidende Frage.
Mir läuft es deshalb kalt den Rücken runter, wenn Marxisten die Vernichtung »lebensunwerten Lebens« ausschliesslich unter ökonomischen Gesichtspunkten analysieren. Sicherlich geht das. Natürlich geht das. Diejenigen im NS-Apparat, die an ihren Schreibtischen die Vernichtung planten, taten nichts anderes.
Weil sich gerade alles in mir sträubt weiterzuschreiben, ja weiterzudenken, füge ich hier einen Auszug aus meinem Tagebuch ein.
Nach Birkenau gingen wir zu Fuss. Dort angekommen zog ich mir die Schuhe aus. Das tat ich bei allen meinen Aufenthalten im Lager. Einerseits ist der Kontakt auf diese Weise direkter, andererseits ist das auch eine Ehrerbietung.
Auf den Schienen der Rampe überkam mich wieder ganz stark dieser Eindruck: das ist hier eine Sackgasse. Die Gefangenen wurden im Lager mit den Worten begrüsst »Dies ist ein Konzentrationslager. Hier kommt ihr nur durch den Schornstein des Krematoriums wieder raus!« und wir heute kommen und gehen wie es uns gefällt.
Nach einer kurzen Strecke zwischen Stacheldraht setzte ich mich zum Meditieren hin. Mit geschlossenen Augen, wenn du nur spürst und hörst, ist Birkenau ganz friedlich – die Lerchen singen, Bäume rauschen im Wind, Hummeln umschwirren dich. Und es blühen Löwenzahn und andere Pflanzen. In den Klärbecken schwimmen Fische, in den Klärgruben quaken die Frösche.
Das Leben hat sich wieder häuslich eingerichtet. Gut so: das Leben ist stärker, es lässt sich nicht endgültig vernichten. Doch komme ich mit diesem Widerspruch nicht klar.
Mein Weg führt mich zum Krematorium V. Im Waldstück davor mussten oft die Menschen warten, weil die Gaskammer noch nicht wieder frei war. Ich stellte mir vor, gerade selektiert worden zu sein, nun da zu sitzen und darauf zu warten, dass ich endlich duschen kann. So muss es den Ahnungslosen damals doch gegangen sein.
Die Schwelle zum Krematorium konnte ich erst nach mehreren Versuchen überschreiten. Ich legte meine Sachen dort ab, wo der Raum zum Ausziehen gewesen ist, und zog dort auch meine Jacke aus. Wieder der Gedanke: Ich kann nachher wieder meine Jacke anziehen, meine Sachen nehmen und gehen. Für die Tausenden Todgeweihten war es endgültig.
Dort, wo vor sechzig Jahren Menschen zu Hunderten mit Insektenvernichtunsmittel vergast wurden, kniete ich in Trauer und Demut auf dem Boden. Musste mich dann hinlegen, bei ihnen sein, sie nicht allein lassen. Es kamen dann Leute, aber von denen lasse ich mich nicht vertreiben. Auch nicht von dem kurzen Regenschauer. Solche Nichtigkeiten verblassen angesichts des Grauens.
Mit tiefer Demut begegne ich den Menschen, die umgebracht wurden. So trage ich meinen winzigen Teil bei, ihre Würde wiederherzustellen, die sie sich Selbst bewahrten, die ihnen jedoch von ihren Peinigern genommen wurde.
Eine Ausstellung mit Bildern ehemaliger Häftlinge des Lagers brachte mich erneut aus der Fassung. Auf einigen wenigen Bildern wurden nämlich Frauen gezeigt, die sehr schön waren und sogar erotisch anziehend wirkten. Inmitten ausgemergelter, kranker Menschen, die die Hässlichkeit des Elends zeigen. Besonders blieb mir ein Bild einer schönen, stolzen Frau im Gedächtnis, die nackt in der Gaskammer vor zwei verschlagenen und grobschlächtigen SS-Männern steht. Sie passte so überhaupt nicht in die verbreitete Vorstellung von Halbverhungerten, die nur noch aus Haut und Knochen bestehen. Sie prägten schliesslich das Bild in einem Lager, dessen einziger Zweck es war, Gefangene durch Arbeit umzubringen.
Als nächstes gingen wir in die Roma-Ausstellung, in der ich aber nicht lange blieb. Spätestens der Film von spielenden Kindern, die später bis auf einige wenige alle in Auschwitz umkommen sollten, nagelte mich auf der Frage fest »wie können Menschen diesen Kindern Böses wollen?« Kurz gesagt beschäftigte mich die Frage nach dem Warum, und dafür nützten mir die vielen Fakten nichts. Ich setzte mich draussen hin und grübelte.
Nach wie vor ist mir unbegreiflich, wie jemand Menschen in Kategorien stecken und sie dann wegen ihrer Kategorisierung verurteilen kann. Und mehr als das: zu Millionen umbringen. Das geht nicht in meinen Kopf hinein. Ich glaube noch nie auch nur einen vagen Bezug dazu gehabt zu haben, eine andere Person nach ihrer Herkunft, Sprache, Religion usw. zu be- geschweige denn verurteilen. Ein Türke, eine Jüdin, ein Kind aus China waren für mich durchaus irgendwie anders als ich. Das ist aber jeder andere Mensch. Einen Türken zu hassen weil er Türke ist wäre mir nie in den Sinn gekommen; wenn er mir etwas Schlimmes angetan hätte, würde ich ihn ausschliesslich für seine Tat hassen. Die Juden wurden aber von den Nazis massenweise ermordet weil sie Juden waren. Und nun lese ich, dass das in der Sowjetunion und sogar noch in den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Argentinien geschehen ist. Fassungslos bleibt mir nur, für die Ermordeten in aller Welt mahnend meine Stimme zu erheben.
Im Krieg herrschen gänzlich andere Bedingungen als in einem Vernichtungslager. Den Soldaten wird von Anfang an die eine Regel des Krieges eingebleut, »er oder ich!« Nur so wird es ihnen möglich, ihre Tötungshemmung zu überwinden: indem sie sich als bedroht, als potentielles Opfer auffassen, das sich verteidigen muss. Ist ein Krieg erst einmal begonnen, dann läuft sein Räderwerk wie geschmiert durch diesen einen Satz »er oder ich.«
Jene Schmiere konnte in einem Vernichtungslager nicht funktionieren; die Peiniger und Mörder konnten mit all ihren Sinnen eindeutig wahrnehmen, dass sie die einzig Gefährlichen vor Ort waren, dass die Häftlinge unbestreitbar ihre Opfer waren. Selbst wer vor seinem Dienstantritt in Auschwitz oder in anderen Lagern geglaubt hatte, die »jüdische Weltverschwörung« sei unglaublich mächtig und kurz davor, sich das gesamte deutsche Reich zu unterwerfen, musste sich seiner eigenen Überlegenheit den einzelnen konkreten jüdischen Gefangenen bewusst sein. Und es kamen ja nicht nur Juden; ihnen allein jedoch wurde Gefährlichkeit für das »deutsche Volk« attestiert.
Dieter Duhms Satz »der Mensch ist für sich Selbst verantwortlich« kam mir sehr bald in den Sinn. Er hat zwei Seiten, denn einerseits ist jeder Mensch ganz für sich Selbst verantwortlich (also nichts und niemand sonst), zum anderen ist mensch für nichts mehr verantwortlich als für sich Selbst. Keine der beiden Bedingungen sind in unserer Kultur erfüllt.
Wenn Eltern »stolz« auf die Leistungen ihrer Kinder sind, dann machen sie diese zu Erweiterungen ihrer selbst, verleiben sie sich ein. Genauso funktioniert das »ich bin stolz, ein Deutscher zu sein.« Damit verleibt mensch sich das gesamte Deutsch-Sein ein, das ganz viel umfasst, was ganz und gar ausserhalb der Einzelnen liegt. Mein deutscher Pass ist reiner Zufall. Und auch die »Deutsche Kultur« (die als solche vom Staat her definiert wird) kann ich zwar meinetwegen ganz toll finden, aber stolz sein, wie soll das gehen?
Mit einem solchen »Wir«, sei’s nun ein nationales, ein subkulturelles oder was auch immer für eins, verschaffen die Menschen sich konstruierte Nähe. Die soll echte Nähe, an der es ganz massiv mangelt, ersetzen. »Wir Deutschen« kennen uns doch zu 99,9999% gar nicht gegenseitig. Das sind immerhin 80 Millionen...
Dazu kommt, dass Nähe, wenn sie konstruiert ist, unbedingt die Ausschliessung braucht. »Die anderen« sind der notwendige Gegenpol zu »Wir«. Es fällt schon sehr schwer, sich als »wir Menschen« zu fühlen, und so mancher »Humanist« muss dem reflexartig »die Tiere« entgegensetzen. Die sind nämlich kategorisch keine Menschen, radikal anders.
Das führt dann zu Sätzen der Art: Untermenschen sind »wie Tiere«. Speziesismus entlarvt sich hier als Grundlage des Rassismus. Frauen sind selbstverständlich auch »wie Tiere«, höchstens auf halbem Weg zwischen Tier und Mensch stehengeblieben. Humanistische Werte greifen eindeutig zu kurz, weil sie nicht die Heiligkeit des Lebens als solches anerkennen, sondern eben nur die Würde des menschlichen (= »männlichen«) Lebens. Würde ist jedoch allgemeines Kennzeichen jeden Lebens. »Lebensunwertes Leben« kann nicht existieren, jedes Leben ist wert zu leben, sonst wäre es gar nicht da.
Die andere Seite der Medaille ist der Befehlsgehorsam, vermittels dessen mensch einen Teil seiner Verantwortung an den Befehlsgeber abtritt. Zumindest für die befohlene Handlung bin ich nicht mehr Selbst verantwortlich. »Sachzwänge« dienen als Vorwand, sich vor seiner Verantwortung zu drücken.
Direkt zur Frage »warum« fiel mir ein, dass die SS-Leute vielleicht gerade deshalb mit ihren Opfern so grausam umgegangen sind, um sich Selbst irgendwie zu beweisen, dass die Heiligkeit des Lebens für jene Menschen gar nicht gilt. Wenn jemand einen Jungen mit Benzin begiesst, anzündet, auf den Zaun zulaufen lässt und ihn kurz vorher erschiesst, denkt der sich dann möglicherweise »Siehste, mit denen kann man’s ja machen«? Das eigene Gewissen wird abgeschaltet, auch indem mensch sich immer wieder vergewissert, dass Verbrechen keine negativen Folgen haben. Wenn Verbrechen zu deinem Alltag wird, dann erscheint es dir nicht mehr als Verbrechen. Wenn du dem Leben die Heiligkeit absprichst, erscheint Mord nicht mehr als Sakrileg.
Nicht nur bildet meine Einstellung den Rahmen für mein Verhalten gegenüber anderen Lebewesen, sondern ich kann diesen Rahmen auch bewusst überschreiten und durch mein Handeln meine neue Einstellung bestimmen. Das wirkt in beide Richtungen: Vermutlich hatten die meisten SS-Leute zu Beginn massive Skrupel. Indem sie trotzdem (auf Befehl!) grausam zu den Häftlingen waren, wandelte sich mit jeder sadistischen Schandtat ihre Einstellung gegenüber ihren Opfern, bis jene wirklich Untermenschen waren, mit denen man alles machen konnte. Umgekehrt ist es schwerer, wie ich befürchte. Denn einen Rassisten/Sexisten/Nazi müsste mensch ja zunächst mal dazu bringen, mitmenschlich zu handeln, bis sich dessen Einstellung ändert.
Interessant in dem Zusammenhang das Christentum mit seinem »die Welt ist schlecht.« Kehrseite der Medaille: wir (Christen) sind die Guten. Kann das zu obigem »mit denen kann man’s ja machen« führen?
Was die Opfer, die Täter und mich Selbst verbindet, sind unerfüllte Sehnsüchte. Denn auch die SS-Leute haben sich ganz bestimmt nicht ihre tiefsten Sehnsüchte erfüllt durch sadistische Quälerei. Ihren Opfern zerstörten sie mit dem Leben auch deren Sehnsüchte; sie konnten nicht zulassen, dass andere (und gerade die »Untermenschen«) Erfüllung finden.
Ein Gedanke zur »Volk ohne Raum«-Ideologie ist, dass gerade die im preussischen Militarismus gedrillten Deutschen sich nach Raum sehnten um sich zu entfalten. Das Versprechen, Lebensraum im Osten zu bekommen, sprach möglicherweise die Sehnsucht an, endlich mal frei durchatmen und wachsen zu können. Die Sehnsucht liess sich sehr gut in territoriale Expansionsgelüste kanalisieren.
Weil ich am ersten Tag gar nicht in geschlossenen Gebäuden war, legte ich am Montag darauf meinen Schwerpunkt. Ich landete im Frauen-Konzentrationslager im Bauabschnitt I. Dort machte ich in einer Baracke eine Gehmeditation. In einer weiteren Baracke machte ich mein Vorhaben wahr, das ich seit dem vorigen Abend hatte: ich sang für die Gefangenen. Zuvor meditierte ich kurz. Es kostete mich sehr viel Überwindung, und die Trauer überwältigte mich fast. Aber ich wollte doch ein klein wenig Lebensfreude dort hineintragen, aus dem starken Drang heraus, etwas von mir zu geben. Damit die Opfer wenigstens nachträglich ein bisschen an dem freien Leben teilhaben können, das wir heute trotz allem führen. Durch das Singen kam ich den Gefangenen näher als bisher.
Der letzte Tag war der tiefste, was auch an unserer Gemeinschaft lag. Heute fuhren wir gleich um neun nach Birkenau und machten dort alles gemeinsam. Erst meditierten wir wieder in der gleichen Baracke wie gestern, wo’s mir noch schwindliger wurde als gestern. Dann machten wir eine Gehmeditation, einmal durch die ganze Baracke und dann draussen den Weg lang. Mir wurde klar, dass ich jetzt einen Teil der Last trage, so viel wie ich eben tragen kann. Das bin ich den Toten schuldig. So setzte ich Schritt vor Schritt, trug dabei die Bürde wie ein Sargträger bei einem Trauerzug.
Draussen fragte ich mich, was trage ich da eigentlich, und schnell kam mir, das ist die Missachtung des Lebens.
Und da erfuhr ich, dass das auch meine eigene Schuld ist, die ich da trage. Denn als Kind habe ich Ameisen verbrannt, einfach so, getötet um des Tötens willen. Sie waren Ungeziefer für mich, lebensunwertes Leben. Meine eigene Lebensfeindlichkeit stand mir so klar wie nie zuvor vor Augen. Wo das Feuer abgebrannt ist, da ist zunächst einmal überhaupt kein Leben mehr, steril. Und Nicht-Leben z.B. in Form von Maschinen ist beherrschbar, berechenbar. Darum ging es mir. Leben macht was es will, damit kam ich nicht klar. Es sollte alles berechenbar sein, ohne Willkür.
Der nächste Gedanke: Zyklon B – Insektenvernichtungsmittel.
Nun steht fest, dass ich die Last nicht einfach irgendwo absetzen kann, ich muss diese meine Schuld irgendwie umwandeln. Aus dem Tod soll Leben wachsen.
Schwer war der Weg zum Teich, in den die Asche geschüttet wurde. Dort während der Meditation änderte sich jedoch die Perspektive; der Geist des Ortes zeigte mir, es kommt auf die Heiligkeit des Lebens an. Wir müssen eine Kultur (wieder-) erschaffen, in der Menschen Zärtlichkeit an die Stelle der Konkurrenz setzen. Eine Kultur, die nicht wie im Krieg »er oder ich« denkt, sondern die den ersten Schritt des Vertrauens wagt. Erfüllt von einer Vision des Friedens verabschiedete ich mich von den Geistern der Toten.
Als nächste Station meditierten wir vor dem Krematorium II, und das kam mir vor wie auf einem anderen Planeten. Die schieren Ausmasse der Gaskammer konnte ich nicht fassen, sie überstiegen meine Vorstellungskraft und so entstand auch nicht mal andeutungsweise eine Nähe zum Geschehen.
Zum Abschluss meditierten wir auf der Rampe. Wolfgang stellte die Frage in den Raum »was bedeutet Selektion, wo selektieren wir heute?« Mir kam dabei zuerst die kapitalistische Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt in den Sinn. In einer Broschüre des Arbeitsamtes über Bewerbungen heisst es »Das Unternehmen muss in kurzer und prägnanter Form davon überzeugt werden, dass der Kandidat zur offenen Stelle und zum Unternehmen passt – und zwar besser als die zahlreichen Mitbewerber.« Personalabteilungen selektieren potentielle Arbeitskräfte. In meinem Leben spielte bisher die Selektion in »Nützlinge« und »Schädlinge« (Ameisen!) die einzig nennenswerte Rolle.
Den stärksten Schmerz bereitete mir die jüdische Totenklage, die wir uns zum Abschluss im Stammlager anhörten. Weinend kniete ich vor dem Grabmal mit dem Davidsstern. Vor solch millionenfachem Leid ist Demut die einzig menschliche Haltung.
Und zur gleichen Zeit prangt der Davidsstern auf israelischen Panzern, die auf PalästinenserInnen schiessen.
Das ist der letzte und für mich grösste Widerspruch jenes Ortes.
Auschwitz eignet sich nicht dafür, irgendetwas damit zu rechtfertigen. Schon gar nicht einen Krieg, wie das unser Aussenminister Joseph Fischer getan hat. Denn aus welchem Grund kommt überhaupt jemand auf die Idee, eine Handlung rechtfertigen zu müssen? Doch wohl weil der Verdacht besteht, es könnte unrecht sein. Nur wenn lebendigen Wesen ein Leid angetan wird, besteht Bedarf zu Rechtfertigungen. Die Opfer von Auschwitz rufen uns dazu auf, das soweit es irgendwie möglich ist zu unterlassen. Sie rufen uns mit zwingendem Ernst die Heiligkeit und Würde allen Lebens in Erinnerung. Eine Heiligkeit, die in Freude und Lust ihre höchste Entfaltung findet.