Samstag, 20. Januar 2001

KapitaStalinismus

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks kann man ja "befreiter" über den Gegensatz des westlichen Systems (Kapitalismus) und des östlichen Systems (Stalinismus - von Kommunismus im Sinne von Marx & Lenin kann nicht die Rede sein) spekulieren. Die Kapitalisten waren (1) von Anfang an davon ausgegangen, daß der Stalinismus scheitern muß und weniger leistungsfähig ist. Angesichts dieser Überzeugung verwunderte es (2) viele, daß er sich so lange gehalten hat und in den 70 Jahren seiner Existenz "erstaunlich" leistungsfähig war (er brachte immerhin solche Dinge wie Sputnik, Mir usw. zustande).

Zu (1): Begründet wurde und wird dies immer damit, daß in der UdSSR und ihren Satellitenstaaten das Privateigentum zugunsten des kollektiven Staatseigentums eingezogen wurde. Was allen gehört (aber niemand im speziellen) wird angeblich nicht so verantwortlich behandelt wie Privateigentum, und die Motivation zu wirtschaften sei viel geringer (weil der Staat im Zweifelsfall für einen sorgt). So geht die Sage. Bevor man ihr glaubt, sollte man sich mit dem Begriff Entfremdung auseinandersetzen. Er stammt bekanntlich von Marx, auf den sich auch die russischen Revolutionäre beriefen. Inhaltlich besagt er, daß in einer arbeitsteiligen (kapitalistischen) Wirtschaft niemand die Früchte seiner Arbeit selbst nutzt und oft noch nicht einmal erfährt, wer letzten Endes was damit macht.
Na, dämmert's? Der selbsternannte "Marxist-Leninist" Stalin trieb im zentralistischen System des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe die Arbeitsteilung (auch und vor allem international!) und damit die Entfremdung auf die Spitze. In gewisser Weise war damit die Sowjetunion der Vorreiter der Globalisierung und hätte sich bestimmt über die heutigen Kommunikations- und damit Koordinationsmöglichkeiten (24h-Arbeitstag rund um den Globus) gefreut. In dieser wahnwitzigen Entfremdung, die mit ihren Kolchosen u.ä. noch viel weiter ging als im Westen, wo zumindest viele Kleinbauern, Handwerker oder "Tante Emmas" die Früchte ihrer Arbeit selbst verkaufen konnten, liegt meines Erachtens die Hauptursache für die gesamtwirtschaftlich geringere Leistungskraft des Stalinismus.
Der Trend des Kapitalismus zur Konzentration von Reichtum brauchte seine Zeit, um den Zustand zu erreichen, den die russische Revolution auf einen Schlag per Staatsstreich durchsetzte.

Zu (2): Ich sprach eben schon von "Konzentration von Reichtum". Dieses Schlagwort verbindet man gemeinhin mit dem Kapitalismus, und es ist auch dessen hauptsächliches Zugpferd. Erst als sich der Kapitalismus entwickelt hatte, der es einzelnen Personen ermöglicht, (mittelbar) über große Mengen materieller Ressourcen zu verfügen, waren z.B. die Expeditionen der Renaissancezeit möglich. Bei einer breiten Streuung der Verfügungsgewalt über materielle Güter braucht es nämlich das Einverständnis von vielen, solche Aktionen durchzuführen. Sehr wahrscheinlich hätten die meisten Menschen lieber so weitergelebt wie bisher, als einen Teil ihres materiellen Besitzes für derartig waghalsige Fahrten über die Weltmeere abzugeben - oder gar mitzufahren.
Damit landen wir wieder beim Stalinismus. Moment - da gibt es aber doch gar kein Privateigentum? Das ist schon richtig, alles gehört allen. Aaber: Nicht etwa alle bestimmen auch, was damit gemacht werden soll. Sondern die Partei; sie hat schließlich immer Recht. Die faktische Verfügungsgewalt hatten also auch im Stalinismus nur einige wenige, und ihre Privilegien gingen sogar noch weiter als die eines noch so mächtigen Monopolkapitalisten. Dieser Kapitalist hat immer nur ein Monopol in einem bestimmten Wirtschaftsbereich - Stalin & Co. hingegen konnten die gesamte sowjetische Volkswirtschaft kontrollieren!
Meine These ist also: Sowohl im Kapitalismus als auch im Stalinismus (nennen wir ihn ruhig "Staatskapitalismus") kontrolliert eine relativ kleine Gruppe von Menschen die materiellen Ressourcen. Sie kann damit - in Grenzen - tun was sie will. Sie braucht vor allen Dingen nicht das Einverständnis all dieser "lästigen" arbeitenden oder arbeitslosen Massen dafür. Dafür sorgt im Kapitalismus das bürgerliche Recht, im Stalinismus der Unterdrückungsapparat von KGB bis Stasi. So gesehen ist es schon verwunderlich, wie sich in Artikel 14 des deutschen Grundgesetzes dieser Zusatz "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen" (ok, das geht noch - Allgemeinwohl kann man sich so zurechtdefinieren, wie's grad paßt) und erst recht "Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig..." eingeschlichen hat. Enteignung - in einem kapitalistischen Land!
Jedenfalls wäre natürlich die ganze Geschichte, aber insbesondere auch die technische und wirtschaftliche Entwicklung ganz anders gelaufen, wenn die breite Masse gefragt worden wäre, was mit ihrem Eigentum (obigem "Allgemeinwohl" in meinem Sinne) anzustellen sei. Menschen waren ja lange Zeit auch bloß Eigentum der herrschenden Schicht. Im Jugoslawien Titos wurde die Arbeiterselbstverwaltung zu einem gewissen Grad verwirklicht; dafür handelte er sich die Feindschaft der "Kommunistischen Internationale" ein - Ironie des Schicksals. Marx und Lenin würden mit hoher Drehzahl in ihren Gräbern rotieren, wenn sie diese Entwicklung mitbekommen hätten.

In diesem Zusammenhang muß betont werden, daß ich mit "leistungsfähig" immer das Gesellschafts- und Wirtschaftssystem als Ganzes meinte. Die Auswirkungen auf die einzelnen Menschen habe ich in meiner Analyse nur hinsichtlich ihres Effekts auf die Gesamtleistung beurteilt. Es gilt nun, eine Balance zwischen der Gemeinschaft und dem Individuum zu finden. Meine Hypothese ist, daß diese Balance für beide die beste Lösung ist, daß also die Gemeinschaft davon profitiert, wenn sich ihre Mitglieder nicht der Gemeinschaft unterordnen, sondern freiwillig miteinander kooperieren.
Kritik an dieser Hypothese geht meist in die Richtung, daß es "in der Natur des Menschen liege", egoistisch zu sein und nur zu kooperieren, wenn man muß. Mit anderen Worten sei Zwang doch nötig, weil sonst gar keine Kooperation zustande käme.
Adam Smith & Co. gehen auch davon aus, daß Unterordnung schlecht ist, aber auch Kooperation sei oft schlechter als Konkurrenz - das bekannte Bild von der "unsichtbaren Hand". Jeder handelt egoistisch und alle haben etwas davon. Das ist natürlich Quatsch, wie man über sehr lange Zeit empirisch feststellen konnte.
Das Problem unserer Zeit liegt darin, daß außer in einigen Stammeskulturen diese freiwillige Kooperation ganz fern liegt, es wechselten sich über weite Strecken der Geschichte Zwang und die "unsichtbare Hand" ab. Aus diesem Grund fällt es uns so schwer, an eine tiefe Solidarität zu glauben, die von Herzen kommt. Wir sind konditioniert, sie für unmöglich zu halten, unseren Kindern wird sie von Anfang an ausgetrieben. Sicher gibt es Ausnahmen (sonst wüßte ich auch nichts davon), Menschen, die in sich spüren, daß es falsch ist, das Elend anderer Menschen zu ignorieren, und die ihnen helfen, ohne dabei eine Kosten-Nutzen-Abschätzung durchzuführen. Das System lebt jedoch von "Anti-Solidarität".
Es bleibt also dabei, die wirtschaftliche Entwicklung wäre vollkommen anders gelaufen, aber nicht notwendigerweise langsamer. Sie wäre vermutlich ganz andere Wege gegangen, keine Unterdrückungs- und Ausbeutungstechnologien sondern Kooperationstechnologien geschaffen (OK, ich polarisiere hier, es ist mehr ein Trend, kein Entweder-Oder). Die Entstehung des Internet zeigt, daß es diesen Trend auch immer gegeben hat. Wir müssen ihn verstärken.

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Im Beitrag Eine neue Kultur fasse ich meinen bisherigen Lebens-Schwerpunkt zusammen - darum geht es mir, nicht nur in diesem Blog.

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